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Einmal damals, zum Mitnehmen
Vergangenheit, die nicht vergeht: Eine Pizza-Studie aus Berlin-Wedding
Abba ertönt aus den Boxen. »Ja, das waren noch goldene Zeiten. 1980, Abba mit ›The winner takes it all‹. Mein Lebensmotto damals wie heut! Die 80er Jahre fingen mit diesem Lied an. Logisch, war ja 1980. Damit kannst du junges Gemüse nichts anfangen, nicht wahr? Weit weg und total uncool, pah.«
Die Pizzeria Taly im Wedding, ein ungastlicher Ort im Vergleich zu klassischen Pizzerien. Kein Springbrunnen, keine Körbe mit Wein, keine liebevolle Dekoration, keine Musik von Adriano Celentano oder Eros Ramazotti. Stattdessen eine schmucklose Theke, ein paar stylische Sitzgelegenheiten für Leute, die sich trotz aller Widrigkeiten dafür entscheiden, hier zu essen, und an der Wand ein überdimensionaler Bildschirm, der 16 Stunden am Tag Musikvideos zeigt. Es ist eine Unsitte geworden, in Gaststätten Bildschirme an die Wand zu hängen, damit die Leute sich nicht mehr unterhalten, sondern auf die Glotze starren.
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»Damit kannst du nichts anfangen, stimmt’s?« Der Mann, der die Frage stellt, macht einen erbärmlichen Eindruck. Die Tür zum Restaurant hat er erst nach mehreren Anläufen öffnen können, und der Weg zur Theke war gesäumt von Hindernissen. Auf den Tisch zur Linken ist er gefallen, den Schrank mit den Tellern rechts hat er touchiert.
»Wollen Sie Ihr Gericht zum Mitnehmen oder hier essen?«, fragt die junge Frau hinter dem Tresen. Der Mann antwortet nicht, sondern schaut weiter auf den Bildschirm. »Damals gab es noch nicht so Clowns wie den da.« Auf dem Bildschirm ist nun ein Rapper zu sehen. »Das waren noch richtige Stars. 1984 etwa. Musiker, die ihr Handwerk beherrschten. Frankie Goes to Hollywood, Wham, Alphaville oder Talk Talk. Später Billy Idol, Pet Shop Boys oder The Bangles. Wenn Billy Idol die Spucke aus dem Mund lief und er sie mit dem Handrücken abgewischt hat, das war Punkrock pur. Dann noch Cyndi Lauper, Milli Vanilli, Fine Young Cannibals. Aber die Namen sagen dir alle nichts, und mir sagen all diese Rapper nichts. Nachts schaue ich im Internet Videos, die kompletten Charts von 1980 bis 1989. Jedes Mal eine große Freude. Ich käme nie auf die Idee, mir dieses Zeug da anzuhören. Alles, was danach kam. Nur hirnloses Gedudel, nur Playback, nur Leute ohne Persönlichkeit. Was ist mit diesem Gebrabbel da? Und dieses Hin- und Herzeigen. Was soll das? Will der mir den Weg zeigen, oder was?«
»Möchten Sie etwas Gewürz auf ihre Pizza?«, fragt die junge Frau, nachdem sie kurz in den Ofen geschaut hat.
»Aber du stehst doch auf so etwas, stimmt’s? So Gangsta-Rapper, die einen auf Körperklaus machen. Tanzen können die doch nicht. MTV ist das ja auch nicht. Gibt doch heutzutage bestimmt 20 solcher Musikclip-Sender. Aber die haben alle keine Moderatoren, keine Schwerpunkte mehr. Die spielen da alles rauf und runter, das meiste natürlich Quatsch und ab und zu mal eine Perle aus den 80er Jahren. Da werden du und deine schwachsinnigen Altersgenossen mal wach und denkt euch: Wie geil, was ist das denn Abgefahrenes? Aber dann kommt schon wieder der nächste Gangsta-Rapper oder Lady Gaga. Der Name allein, gaga, das sagt doch schon alles. Gaga im Kopf, sage ich da nur. Die kann doch nicht mit Madonna mithalten, also der frühen Madonna. Aber ab 1990 hat Madonna ja nur noch Mist gemacht. Die 80er Jahre waren bestimmt so ein esoterisches Ding, so ein Wunderjahrzehnt, wo die Sterne günstig standen. Vielleicht so was Chinesisches. Das Jahrzehnt des Drachen, die 80er Jahre. Danach kam das Jahrzehnt der Ratte, dann das der Flöhe, dann das der … ach, was weiß ich. Aber die frühe Madonna, die war klasse. Ich weiß noch, wie ich 1983 die Single ›Like a Virgin‹ gekauft habe, im Karstadt am Leopoldplatz. Ich habe extra angestanden, um einer der Ersten zu sein. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Das war am 13. Juli 1983 gewesen.«
»Ihre Pizza ist fertig. Das macht sechs Euro fünfzig.«
»Hier hast du zehn Euro. Von dem Rest kannst du dir ja mal gute Musik aus den 80er Jahren ›runterladen‹, wie man das ja heute auch kaum noch macht. Ihr habt ja nicht einmal Ahnung davon, wie sich eine Schallplatte, eine CD oder eine Kassette anfühlt. Verlorene Generation, kann ich da nur sagen. Wahrscheinlich holst du dir von dem Trinkgeld die neueste Gangsta-Rapper-Scheiße. Aber ich gebe nicht auf, vielleicht ist bei dir noch was zu retten. Bis morgen!«
Die junge Frau steht alleine hinter dem Tresen. Der Mann ist draußen mit seiner Pizza ins Gebüsch gefallen. Jetzt rappelt er sich orientierungslos wieder hoch, wankt einen Moment hin und her und setzt dann torkelnd seinen Weg fort. Freundlichkeit ist das oberste Gebot, sagt der Chef. Die Kunden sollen sich wohlfühlen. Das sagt sich die junge Frau immer wieder, jeden Tag und besonders bei diesem Gast, der jeden Abend kommt und immerzu das Gleiche erzählt.
Doch wenn der Mann weg ist, fühlt sie sich genötigt, ihm eine Antwort zu geben. Wenn er anwesend wäre, dann würde er am nächsten Tag nicht wiederkommen, gedemütigt von ihrem Wissen. Sie hat sich mit seinem Gerede beschäftigt. Sie hat sich die Musik angehört, einige Sachen gut gefunden und, eher zufällig, eine Sache entdeckt. Aber sie darf diesen Kunden nicht verprellen, der Laden läuft nicht gut. »›Like a Virgin‹ ist im November 1984 erschienen, du Vollidiot«, ruft sie und wirft das Spültuch in Richtung Tür.
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