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Bezahlkarte in Brandenburg: »Wettbewerb der Schäbigkeit«
Nach Einführung in Märkisch-Oderland wird hitzig über die Bezahlkarte für Geflüchtete diskutiert – auch wegen Urteilen in Hamburg und Bayern
Um ihr größtes Problem mit der Bezahlkarte für Geflüchtete zu erklären, braucht die Landtagsabgeordnete Andrea Johlige (Linke) nicht allzu lange. »Wenn eine geflüchtete Mutter ihrem Kind neue Klamotten kaufen muss, dann kann sie dafür nicht einfach zum H&M. Sie muss auf Flohmärkte oder die Sachen auf Kleinanzeigen kaufen – und da wird nun mal mit Bargeld gezahlt«, sagt die migrationspolitische Sprecherin der Brandenburger Linksfraktion zu »nd«.
50 Euro pro Monat können sich Flüchtlinge in Märkisch-Oderland mit ihrer Bezahlkarte in Bar auszahlen lassen. Kindern werden 25 Euro zugestanden, abgelegt auf der Karte der Mutter. Geschäfte über Ebay oder Amazon haben die Behörden blockiert, um zu verhindern, dass Geflüchtete ihr Geld auf Umwegen doch noch ins Ausland schaffen. 410 Euro pro Monat erhält ein Asylbewerber in den ersten zweieinhalb Jahren nach seiner Ankunft.
In dem beschränkten Zugang zum Bargeld sieht Johlige eine »absolute Zumutung«, gerade für Kinder. Im Schwimmbad, auf dem Schulausflug oder im Jugendalter, wenn es mit Freund*innen in die Stadt gehen soll: Die Bezahlkarte erweise sich nicht nur als untauglich in der Praxis, sie verstoße auch gegen Grundrechte der geflüchteten Menschen. »Die Bargeldbeschränkung muss weg«, fordert die Linke-Politikerin.
Argumente liefern jüngste Gerichtsurteile in der Bundesrepublik: Nachdem zuletzt das Hamburger Sozialgericht eine 50-Euro-Bargeldgrenze bei der Bezahlkarte für rechtswidrig erklärte, gab nun das Nürnberger Sozialgericht in seinem Urteil vom Dienstag einer 49-jährigen Geflüchteten recht. Die Frau hatte geklagt und argumentiert, dass es ihr mit der Bezahlkarte nicht möglich sei, das Existenzminimum abzudecken.
Anfang Mai hatte Märkisch-Oderland als erster Brandenburger Landkreis die Bezahlkarte eingeführt und sie an 770 Geflüchtete ausgegeben. Auf eine einheitliche Lösung im Bundesland wollte die Verwaltung nicht warten. Die Vorbereitungen für eine flächendeckende Einführung laufen derweil weiter. Nach dem Urteil des Hamburger Sozialgerichts machte der Brandenburger Landkreistag zuletzt noch einmal deutlich, an seinen Plänen für eine Bargeld-Beschränkung von 50 Euro beziehungsweise 25 Euro festhalten zu wollen.
Auch Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) sieht keinen Anlass umzusteuern und machte sich am Mittwoch erneut für die Idee hinter der Bezahlkarte stark. Ziel sei es, den »Missbrauch von Geld aus dem deutschen Sozialsystem« zu verhindern. »Es gibt ja diese starren Bargeld-Obergrenzen nicht«, sagte Woidke in Vierlinden. Es gebe durchaus Möglichkeiten, im Einzelfall von den Regelungen abzuweichen, etwa wenn eine Schwangere einen gebrauchten Kinderwagen kaufen wolle.
»Die Bezahlkarte ist reine Symbolpolitik, die rechten Kräften in die Hände spielt.«
Flüchtlingsrat Brandenburg
Die ersten Monate nach der Einführung in Märkisch-Oderland wertet Woidke als Erfolg, genauso wie der dortige Landrat und Parteikollege Gernot Schmidt. Auf der Suche nach einer Einigung zeigt sich Woidke ebenso zuversichtlich: »Wenn es zu lange dauern sollte, dann werden andere Landkreise dem Beispiel des Landkreises Märkisch-Oderland folgen.«
Nicht schnell genug geht es hingegen Zyon Braun, dem Spitzenkandidaten der FDP für die kommende Landtagswahl. »Ministerpräsident Woidke muss die Einführung der Bezahlkarte für ganz Brandenburg zur Chefsache machen«, fordert er in einer Mitteilung am Mittwoch. Märkisch-Oderland gehe beispielhaft voran und zeige, dass das System funktioniere. »Es darf nicht erneut zu einem Schattenboxen über die Höhe des Taschengeldes innerhalb der Landesregierung kommen.«
»Das Ganze ist ein Wettbewerb der größten Schäbigkeit«, entgegnet Johlige. Um Stimmen am rechten Rand zu fischen, versuchten Brandenburgs etablierte Parteien, sich gegenseitig in erbarmungsloser Flüchtlingspolitik zu übertreffen. »Am Ende ist es wieder die AfD, die gewinnt.« Die Linke-Politikerin befürchtet, dass Brandenburger Kreistage auf eigene Faust noch weitere Verschärfungen an dem Bezahlkarten-Konzept vornehmen. Um das zu verhindern, müsse das Land Mindeststandards festlegen.
Neben der Bargeldbeschränkung kritisiert Johlige datenschutzrechtliche Mängel, die das System Bezahlkarte mit sich bringe. In Märkisch-Oderland müssten Geflüchtete der Sozialbehörde offenlegen, an wen die Überweisungen mit der Bezahlkarte erfolgen sollen. »Die Verwaltung lässt nicht allzu viel durchblicken«, sagt Johlige. »Aber wenn ich es richtig verstanden habe, dann prüfen Verwaltungsmitarbeiter jede einzelne Überweisung von Hand auf ihre Vertrauenswürdigkeit.« Das verletze nicht nur die Datenschutzrechte der Karteninhaber*innen. Auch die Daten Dritter, von Privatpersonen oder Unternehmen, würden so überprüft – ganz egal, ob vertrauenswürdig oder nicht.
Ähnlich wie Johlige sieht es der Flüchtlingsrat Brandenburg. In einer Mitteilung an »nd« schreibt er von einer »massiven Einschränkung der eigenständigen Lebensführung« und von »rassistischer Ausgrenzung« geflüchteter Menschen. Gravierende Folgen zeigten sich etwa in Neuhardenberg (Märkisch-Oderland), in dem Bewohner*innen der dortigen Gemeinschaftsunterkunft regelmäßig von einem Lebensmittelwagen zu erschwinglichen Preisen versorgt würden. Kartenzahlung sei hier nicht möglich.
Die Bezahlkarte verursache hohe Kosten und einen zu großen Verwaltungsaufwand, so der Flüchtlingsrat: »Geflüchtete Menschen sollten ihre Leistungen auf ein Basiskonto erhalten, wie auch schon in vielen Landkreisen praktiziert – das bedeutet auch den geringsten verwalterischen Aufwand.« Die Urteile in Hamburg und Nürnberg machten Hoffnung auf weitere Klagen und Anträge, auch aus Märkisch-Oderland. Initiativen im Landkreis, die mit solidarischen Einkaufsaktionen versuchten, den Geflüchteten zu mehr Bargeld zu verhelfen, seien sich einig: »Die Bezahlkarte ist reine Symbolpolitik, die rechten Kräften in die Hände spielt.«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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