Wenn der Eismann zweimal klingelt

Willkommen im Dienstleistungsproletariat: Eine Jugenderinnerung an das wilde Leben als Eisverkäufer

Ob an der Ostsee oder in Pakistan: Eis schmeckt am besten am Strand.
Ob an der Ostsee oder in Pakistan: Eis schmeckt am besten am Strand.

Niemand wird für die Arbeitswelt geboren, man muss erst gehörig hingebogen und erzogen werden, um, wenn es darauf ankommt – und das wird es früh genug –, im Räderwerk zu funktionieren. Durch die Schule bereits einigermaßen dressiert, wollte auch ich im zarten Jugendalter ein paar Taler verdienen und war bereit, dafür meine Haut zum freien Markte zu tragen.

Zunächst ließ ich mich für ein Wochenende auf dem Kleinstadtweihnachtsmarkt engagieren: Im sogenannten Märchenwald sollte ich im Ganzkörperbärenkostüm zur Unterhaltung der Kinder beitragen. Tatsächlich zeigten aber eher ältere, glühweinselige Damen Interesse an mir und zuppelten wenig damenhaft an meinem Bärenschwänzchen. Arbeit, das wurde mir schnell klar, bedeutete Demut. Mein Lohn für zwei Tage im Fell war ein Gutschein im örtlichen Kino. Ich hatte offenbar schlecht verhandelt – falls davon überhaupt die Rede sein konnte.

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So konnte es nicht weitergehen mit mir. Ich brauchte eine neue Anstellung, gleich im nächsten Sommer, in den Ferien. Und so heuerte ich am Ostseestrand als fahrender Eismann an. Hätte es denn eine bessere Beschäftigung für mich geben können? Den ganzen Tag am Strand abhängen, ein paar Eis verkaufen – so schwer konnte das wohl kaum sein –, zwischendurch selbst eins schlecken und dabei Geld verdienen? Zumindest, so viel lässt sich sagen, lernte ich einiges über die realen Verhältnisse im Dienstleistungsproletariat.

Das Ehepaar, das mafiagleich den Eisverkauf an dem Strand überwachte, der mein Arbeitsplatz sein sollte, erklärte mir zunächst, wie es seine beispiellose Karriere kurz nach der Wende begonnen hatte: Mit Kühltaschen seien die beiden im Sommer losgezogen und hätten Eis um Eis mit ihren eigenen Händen verkauft, auf dem Campingplatz hätten sie übernachtet. Und mittlerweile? Zu ihrem Imperium gehörte ein Kühlwagen, vielleicht ein Dutzend motorisierter Eiswagen, ebenso viele prekär Beschäftigte, und auch ins Zelt mussten sie nicht mehr kriechen, stattdessen logierten sie in einem feinen Strandhaus. Wartete vielleicht auch auf mich ein solcher Aufstieg? Wohl kaum. Aber immerhin wurde dieser Illusion Platz eingeräumt.

Mein Eiswagen wurde fachmännisch beladen, ich mit Wechselgeld versorgt und schon ging es an den mir zugeteilten Strandabschnitt. Ich musste nur zweimal mit der Glocke läuten, schon kamen in Scharen die eishungrigen Mäuler. Enttäuschung machte sich bei den Kindern breit, wenn sie, im Markenkonsum bereits geübt, nach den Sorten »Flutschfinger«, »Bum Bum« oder »Ed von Schleck« fragten, ich aber nur mit namenlosem Billigeis aufwarten konnte.

Mein behäbiges Gefährt führte ich zunächst elegant an den Sandburgen vorbei. Bald aber hatte ich den Dreh raus: Es ging darum, die Burgen zum Einsturz zu bringen, es absichtslos erscheinen zu lassen und dann darauf zu warten, bis die Eltern den weinenden Kindern zum Trost ein Eis spendierten. Dass mein Wagen motorbetrieben fuhr, sollte keiner wissen. Je mehr man mir die Mühe ansah, die das Schieben scheinbar anrichtete, desto großzügiger fiel das Trinkgeld aus.

Schnell lernte ich nicht nur die kleinen Tricks, sondern machte ich auch Bekanntschaft mit den Schattenseiten: Wenn es regnete, musste ich gar nicht erst antreten. Das machte den Arbeitsalltag ziemlich unberechenbar. Bezahlt wurde ich leistungsabhängig, zehn Prozent des von mir erwirtschafteten Tagesumsatzes durfte ich gleich mit nach Hause mitnehmen. Besonders üppig war das nicht. Dass der Don Corleone vom Eis am Stiel vermutlich keine Steuererklärung machte, wurde mir erst später klar. Mein Ertrag lag ohnehin weit unterhalb jedes vorstellbaren Freibetrags.

Wenn ich nach ein paar Stunden in der Sonne Pause machte und währenddessen mit einem Leidensgenossen, einem Schuljungen, der Würstchen und Kaffee am Strand anbot, plauderte, konnte ich mir der Ermahnung durch meinen Arbeitgeber sicher sein. Er fuhr ganztägig den Strand ab und beobachtete durch ein Fernglas seine Schützlinge, die er mit Eisnachschub versorgte. Ob mich die Konkurrenz wieder ausgehorcht habe, wollte er von mir wissen, dabei waren wir nur zwei Teenager, die sich für vieles interessierten, aber nicht für die verkaufsstrategischen Erwägungen und monopolistischen Bestrebungen von dem paranoiden Mister Eiskalt.

Am Ende der Saison hatte ich viel Schweiß vergossen, aber mein Geldbeutel hatte sich kaum merklich gefüllt. Im nächsten Jahr dürfe ich wieder ran, ließen mich meine Arbeitgeber wissen. Sie würden mich anrufen, nächstes Jahr. Als mein Telefon tatsächlich klingelte und ich die Nummer erkannte, wusste ich was zu tun war: Bloß nicht abheben – die Arbeitshölle sollte noch früh genug kommen.

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