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Kabinett Starmer: Labours überschatteter Neustart
Die Regierung von Keir Starmer will Großbritannien reformieren und sieht sich mit rechtsextremen Ausschreitungen konfrontiert
»Es ist für alle offensichtlich, dass dieses Land einen Neustart braucht«, hatte Keir Starmer am 5. Juli gesagt, als er nach der Neuwahl zum ersten Mal als Premierminister zur Nation sprach. Er machte sich denn auch unverzüglich an die Arbeit. In den vergangenen vier Wochen hat die neue Labour-Regierung etliche Reformen umrissen. Allerdings setzt Starmer nicht auf schlagzeilentaugliche Vorstöße, sondern auf eine eher unaufgeregte Politik.
An erster Stelle steht das Wirtschaftswachstum. Eine ganze Reihe von Maßnahmen ist darauf ausgerichtet. So hat Starmer eine Reform des Planungsrechts in Aussicht gestellt, um den Hausbau anzukurbeln. Über einen staatlichen Investmentfonds soll Geld für den grünen Umbau der Wirtschaft lockergemacht werden. Die Entscheidungsgewalt soll zudem verstärkt an die Regionen abgetreten werden – Großbritannien ist eines der zentralisiertesten Länder Europas.
Eine Stärkung der Arbeitsrechte ist ebenfalls Teil der Mission: Angestellte sollen beispielsweise vom ersten Tag an Anrecht auf Krankengeld haben; auch soll der Mindestlohn angehoben werden. Eine größere Gehaltserhöhung erwartet die streikenden Assistenzärzte: Anfang der vergangenen Woche hat ihnen die Regierung satte 22 Prozent mehr Gehalt angeboten, um den langwierigen Arbeitskampf zu beenden.
Allerdings steht die gezügelte Art, mit der sich Starmer an die Reparatur des Landes gemacht hat, in deutlichem Kontrast zur Schärfe, mit der er gegen seine innerparteilichen Gegner vorgeht. Vergangene Woche beispielsweise warf er sieben seiner Abgeordneten kurzerhand aus der Fraktion. Ihr Vergehen: Sie hatten für einen Antrag der Schottischen Nationalpartei gestimmt, um den sogenannten Two child benefit cap über Bord zu werfen. Gemäß diesem Kindergeld-Deckel, der 2017 von den Tories eingeführt wurde, können mittellose Eltern nur für ihre ersten zwei Kinder Sozialleistungen beziehen. Experten schätzen, dass eine Abschaffung des Deckels rund 300 000 Kinder aus der Armut holen würde. Aber Starmer will die Beschränkung beibehalten – er sagt, es sei kein Geld da.
Die skrupellose Abstrafung der Rebellen – Fraktionsausschluss ist die dickste Keule im Arsenal des Parteichefs – ist von manchen Kommentatoren als »Machtdemonstration« bezeichnet worden. Andere sind skeptischer. Solch »offensichtlicher Machismo könnte ins Auge gehen«, schreibt etwa der »Guardian«. Alle sieben ausgeschlossenen Abgeordneten sind dem linken Flügel zugehörig. Dass Starmer so rigoros gegen sie vorging, wird linke Wähler weiter in die Hände anderer Parteien treiben – eine Tendenz, die bereits bei der Wahl vom 4. Juli zu beobachten war. Allerdings wird sich Starmer darüber kurzfristig nicht den Kopf zerbrechen, denn die nächsten Wahlen sind erst in fünf Jahren fällig.
Akut ist hingegen ein anderes Problem, wie die vergangenen Tage gezeigt haben: der erstarkende Rechtsextremismus in Großbritannien. Es ist die erste unvorhergesehene Krise, mit der sich Starmer beschäftigen muss.
Auslöser war die Messerattacke im nordenglischen Southport, bei der ein 17-Jähriger am Montag drei Mädchen erstochen und mehrere andere Personen schwer verletzt hat. In der Folge rauften sich hunderte Rechtsextreme vor einer nahen Moschee zusammen und begannen zu randalieren – obwohl es keine Hinweise gab, dass die Tat einen islamistischen Hintergrund hat.
Am Mittwoch sprangen die Krawalle auf andere Städte über. In Manchester und Hartlepool kam es zu schweren Ausschreitungen, auch in London marschierten Hooligans vor der Downing Street auf. In Liverpool entstand schwerer Brandschaden in einer Bibliothek, die als Hilfsstelle für ärmere Menschen dient. In Blackpool im Nordwesten Englands gab es Zusammenstöße zwischen Rechtsextremisten und Gegendemonstranten.
Bis zum Sonntag wurden landesweit mehr als hundert Krawallmacher verhaftet. Die Polizei hat bekannt gegeben, dass der in Untersuchungshaft befindliche Tatverdächtige in Großbritannien geboren wurde. Seine Eltern stammen aus Ruanda. Das Motiv ist unklar.
Am Donnerstag hatte Starmer führende Polizeichefs aus ganz England für eine Krisensitzung zu sich zitiert. Wer »Hass sät«, werde »die volle Kraft des Gesetzes zu spüren bekommen«, sagte er. Ein größeres Problem ist die Verbreitung von Falschinformationen in den sozialen Medien. »Sechs Stunden der Desinformation« hätten den Krawall befeuert, sagte Sunder Katwala vom Thinktank British Future gegenüber dem »Economist«.
Aber um das Problem an der Wurzel zu packen, wird mehr nötig sein. Anti-Rassismus-Experten warnen, dass rechte Haltungen, insbesondere was Migration betrifft, in den vergangenen Jahren salonfähig geworden sind – führende Politiker sowie manche Medien haben ihren Teil dazu beigetragen. »Stop the boats«, schrien die Chaoten in London – ein Slogan, den sie sich direkt bei Starmers konservativer Vorgängerregierung abgeschaut haben.
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