Die Zeit der Gier scheint vorbei

Schwächelnde US-Konjunktur lässt Aktienkurse in Frankfurt, Tokio und an der Wall Street einbrechen

Bei Aktienhändlern bricht derzeit nicht gerade Euphorie aus.
Bei Aktienhändlern bricht derzeit nicht gerade Euphorie aus.

An den Finanzmärkten geht die Angst um, dass sich in den Vereinigten Staaten eine Wirtschaftskrise anbahnt. Weltweit brachen deshalb die Kurse an den Börsen am Freitag und auch zum Wochenstart ein. »Kernschmelze« und »Schwarzer Montag« titelten internationale Wirtschaftsmedien. Volkswirte der Commerzbank sprechen von einer »Panik am Markt im Hinblick auf die US-Konjunktur«. Dort stelle sich die Frage, ob angesichts zuletzt schwacher Konjunkturdaten und eines »beispiellosen Zinserhöhungszyklus« noch eine Rezession vermieden werden könne. Die Folgen für Europa und Asien wären erheblich.

Allerdings sind auch an den Börsen offenbar nicht wenige der Meinung, dass die Befürchtungen übertrieben sind. Am Dienstag gab es bereits teilweise eine Gegenbewegung: So schoss der Nikkei-Index in Japan, nachdem er tags zuvor um 13 Prozent abgestürzt war, um rund zehn Prozent in die Höhe. Auch anderswo gab es zumindest leichte Zugewinne. Der deutsche Aktienindex Dax, der lange von Rekord zu Rekord gejagt hatte, reagierte generell mit einem Minus von etwa sechs Prozent nicht ganz so heftig.

Nichtsdestotrotz: Die Zeit der Gier scheint an den Finanzmärkten erst mal vorbei. Global seien Anleger risikoscheu geworden und verkauften Aktien, so der Tenor der Börsenbeobachter in aller Welt. Was dann zu sinkenden Kursen an den Aktienmärkten etwa in New York, Tokio, Hongkong und Frankfurt führt. Begründet hatten den Abwärtstrend einige handfeste Negativmeldungen aus der Realwirtschaft. So hat Nvidia, Spezialist im Bereich Halbleiter für Künstliche Intelligenz (KI), den Start neuer Chips wegen eines Designfehlers verschoben. Nvidia war als Profiteur der KI-Welle zuletzt an die Spitze der allgemeinen Börsen-Rallye gerast. Außerdem verkündete Chip-Produzent Intel, der den Bau neuer Fabriken unter anderem in Europa und Deutschland avisiert, plötzlich ein Sparprogramm und streicht 15 000 Stellen. In Deutschland schwächelt besonders die Autoindustrie. So will der Friedrichshafener Zulieferer ZF bis zu 15 000 Stellen weltweit abbauen.

Am Freitag war es zu ersten heftigen Kursverlusten in Europa, Asien und an der Wall Street gekommen, als Spekulationen die Runde machten, dass die US-Notenbank Fed mit ihrer im September erwarteten Zinssenkung zu spät kommen könnte, um die schwächelnde Konjunktur aufzufangen. Neue negative Daten vom Arbeitsmarkt und vom verarbeitenden Gewerbe hatten zuletzt überraschend deutliche Warnsignale ausgesendet. Auch die Weltwirtschaft insgesamt gibt wenig Anlass für Optimismus. Europa, vor allem Deutschland, hat schon seit Langem keinen größeren Beitrag zum globalen Wachstum liefern können – und der einstige Star China sei nur noch ein Schatten seiner selbst, heißt es am Markt.

Plötzlich droht nun sogar das Zugpferd der Börsen zu erlahmen: Technologiewerte, die zuletzt vom (medialen) Boom der Künstlichen Intelligenz profitiert hatten. »Immer mehr Anleger zweifeln an den mit KI verbundenen Wachstumshoffnungen«, schreibt das wirtschaftsnahe »Handelsblatt«. Mehrere US-Finanzriesen warnen mittlerweile vor einer Spekulationsblase bei Techwerten.

Ob sich der »Schwarze Montag« wirklich zu einer »Kernschmelze« (Bloomberg) an den Finanzmärkten ausweiten wird, ist jedoch keineswegs ausgemacht. Man kann die weltweite Entwicklung durchaus weniger panisch als neue Normalität lesen. »Was wir sehen, ist eine gesunde Korrektur, die zurück in die Normalität führt«, meinen etwa die Analysten der Deutschen Bank. Andere weisen darauf hin, dass Nachrichten als düstere Vorboten kommender Krisen gelten, die bislang noch als positiv oder zumindest neutral interpretiert worden wären. Demnach wären es lediglich kurzlebige Stimmungen, die gerade die Kurse treiben.

Als nachhaltiger könnten sich aber durchaus die Sorgen um die Realwirtschaft erweisen. »Der (Finanz-)Markt preist jetzt das ernst zu nehmende Szenario eines starken Abschwungs oder gar einer US-Rezession ein«, lässt sich Kenneth Rogoff zitieren. Der Harvard-Ökonom ist (zusammen mit Carmen Reinhart) Autor einer Studie über acht Jahrhunderte Finanzkrisen, die auch unter linken Ökonomen in Deutschland als Meilenstein gelobt wird. Ein Mix aus enttäuschenden Konjunktur- und Arbeitsmarktdaten in den USA, Ernüchterung mit Blick auf den erwarteten Wachstumsschub durch die Künstliche Intelligenz und politische Ungewissheiten, wie die zunehmend kritische Lage im Nahen Osten, lasten demnach schwer auf der Weltwirtschaft.

Und die Globalisierung, vor einigen Jahrzehnten auch Treiber eines Börsenbooms, befindet sich seit Langem in einer heiklen Gemengelage. In vielen Ländern ist Protektionismus auf dem Vormarsch – hohe Zollhürden können exportlastigen Wirtschaftsmodellen besonders im Wege stehen. Dies trifft neben Deutschland vor allem China. Zwei Jahrzehnte lang war die Volksrepublik die Lokomotive der Weltwirtschaft und ist der wichtigste Markt für Auto-, Chemie- und Maschinenbaukonzerne aus westlichen Industrieländern. Doch gerade die mehr als 100 Länder mit mittlerem Einkommen, zu denen auch der Wirtschaftsriese China zählt, profitieren weniger als reiche und arme Länder von der Globalisierung.

So sieht es zumindest Weltbank-Chefökonom Indermitt Gill, der in einer aktuellen Studie von der »Middle Income Trap« spricht: Wenn einst arme Länder ein mittleres Pro-Kopf-Einkommen erreicht haben, tappten sie in eine Falle, der bislang nur wenige entronnen sind. Der Grund: Sie können »nicht mehr« mit Niedriglohnländern und deren billigen Massenfertigung konkurrieren und »noch nicht« mit den technologisch hoch entwickelten Industrieländern. Selbst China, Brasilien, Indien und Südafrika werden es laut Gill schwer haben, innerhalb der nächsten Jahrzehnte in die oberste Liga aufzusteigen. Diese These ist unter Ökonomen zwar umstritten. Doch die aktuellen Entwicklungen auf den Finanzmärkten könnten sie stützen.

»Der Markt preist jetzt das ernst zu nehmende Szenario eines starken Abschwungs oder gar einer US-Rezession ein.«

Kenneth Rogoff Harvard-Ökonom
Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.