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Defensive Stadtmöbel in Straßburg: Nett hier, aber nicht für alle

Beim Spaziergang durch Straßburg zeigt der Philosoph Mickaël Labbé, wie ungemütliche Architektur arme Menschen aus dem öffentlichen Raum vergrämt

  • Finn Gessert und David Kirchner
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Sitzplätze auf der Place des Orphelines sind zu kurz, um darauf liegen zu können und ohne Lehne, damit man weniger lang auf ihnen verweilen möchte.
Die Sitzplätze auf der Place des Orphelines sind zu kurz, um darauf liegen zu können und ohne Lehne, damit man weniger lang auf ihnen verweilen möchte.

Auf einer Insel, umgeben von dem Flüsschen Ill, liegt die Straßburger Altstadt mitsamt ihrer berühmten Kathedrale Notre-Dame. Geht man von dort aus Richtung Süden über eine der Brücken, gelangt man schnell in das Quartier Austerlitz, das laut einer Studie zu den zehn lebendigsten in Frankreich zählt. Der Treffpunkt dieses Stadtviertels ist die grüne, verkehrsberuhigte Place d’Austerlitz, auf der sich bis 2009 der Fernbusbahnhof befand. Früher wurde in den umliegenden Kneipen und Spielcasinos bis spätabends geraucht; heute verabredet man sich dort in hippen Lokalen zum Brunch.

Es ist noch nicht einmal Mittagszeit, aber die Sommersonne prügelt bereits auf die Place d’Austerlitz ein. Ein paar junge Leute sitzen mit Macchiato und Macbook auf der Terrasse des Café Bâle, während gegenüber einige obdachlose Menschen im Schatten einer Linde dösen. Ein paar Meter weiter spielen zwei Kleinkinder mit einer Wasserfontäne. Sie machen sich gegenseitig nass und sausen dabei um drei drehbare Metallstühle herum. Auf einem davon sitzt die mutmaßliche Mutter und wacht über die tollenden Kinder.

»Die subtile Perversität solcher Möbel besteht darin, dass sie für die meisten Stadtbewohner unsichtbar bleiben«, konstatiert Mickaël Labbé und deutet auf das friedliche Geschehen. »Aber für obdachlose Menschen sind sie eine unüberwindbare Hürde im Alltag.« Vor ein paar Jahren standen auf dem Platz noch Parkbänke, auf denen man schlafen konnte, erzählt der Professor für Ästhetik und Philosophie der Architektur bei einem Bummel mit dem »nd« durch das Quartier. Heute gibt es dort nur noch unbequeme Metallstühle – Paradebeispiele der defensiven Architektur.

Bei der Umgestaltung des Platzes sind nicht nur Menschen ohne Obdach außen vor geblieben: Das Szene-Café Bâle serviert im Gegensatz zu seinem Vorgänger, dem »À la ville de Bâle«, nach 17 Uhr keine warmen Getränke mehr. »Der Eigentümer sah die Revitalisierung des Platzes als eine gute Gelegenheit an, einen Klientelwechsel zu vollziehen«, erzählt Labbé zwischen zwei Zügen an seiner E-Zigarette. Offensichtlich sind die spätabendlichen Stammkunden aus Busbahnhofszeiten nicht länger erwünscht.

Ganz in schwarz gekleidet bewegt sich der Philosoph mit der lässigen Selbstverständlichkeit von jemandem, der hier schon lange lebt – seitdem er mit 18 Jahren für das Studium hergezogen ist, um genau zu sein. Noch vor ein paar Jahren war der 40-Jährige oft in den Cafés an der Place d’Austerlitz zu Gast. Die neue Begrünung und die Verkehrsberuhigung des Quartiers gefielen ihm gut. Doch allmählich stellte sich ein gewisses Unbehagen ein: Ihm fielen Parkbänke ins Auge, die einem das Liegen verwehren. Bushaltestellen ohne adäquate Sitzgelegenheit. Getränkepreise, die sich nicht jeder leisten kann. Er begann, die scheinbar ansprechenden Gestaltungselemente des Platzes als subtile Verdrängungswerkzeuge gegen bestimmte soziale Gruppen, etwa obdachlose und arme Menschen, wahrzunehmen.

Von da an fühlte sich Labbé beim Kaffeetrinken auf der Place d’Austerlitz jedes Mal schuldig. 2019 nahm er seine Beobachtungen zum Anlass, eine Streitschrift zu schreiben: In »Platz nehmen. Gegen eine Architektur der Verachtung« fragt er sich und uns, wem eigentlich die Stadt gehört, von wem sie für wen gestaltet wird und wie wir sie zurückerobern können. »In einer Stadt können niemals alle Interessen gleichermaßen berücksichtigt werden«, stellt er fest. »Die Demokratie ist ein ständiger Kampf. Und ich möchte für eine maximal offene und plurale Stadt kämpfen.«

Dieser Kampf ist nicht nur im Interesse der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, davon ist Labbé überzeugt. Beispielsweise sei eine bewusst ungemütlich gestaltete Bank für obdachlose Menschen ein Problem – aber auch für schwangere Frauen, Senior*innen oder alle, die sich während des Stadtbummels kurz ausruhen wollen. »Defensive Architektur betrifft uns alle. Und ich glaube, das haben ihre Designer*innen und die Politiker*innen nicht bedacht.«

Solche Möbel machen eine Stadt weniger lebenswert.

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Der Versuch, eine Stadt zu gestalten, die für die einen einladend und für die anderen abstoßend ist, kann also nur nach hinten losgehen. Diese Feststellung ist für jeden unausweichlich, der schon einmal versucht hat, es sich auf defensivem Stadtmobiliar gemütlich zu machen – ganz egal, wie körperlich fit und finanziell wohlsituiert man sein mag. Solche Möbel machen eine Stadt weniger lebenswert. Die Geringschätzung, die von defensiver Architektur ausgeht, macht nicht bei den anvisierten sozialen Gruppen halt; sie dringt in jede Pore der Gesellschaft ein. Das ist auch die Hauptthese von »Platz nehmen«.

Sich als Bürger*in gegen die von Labbé angeprangerte »Architektur der Verachtung« zu wehren, ist nicht einfach. Beispielsweise wisse niemand genau, welche Behörde die Installation der obdachlosenfeindlichen Metallstühle auf der Place d’Austerlitz veranlasst habe, so Labbé. Für die Viertelgemeinschaft ist es fast unmöglich, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Außerdem sind es nicht nur politische Akteure, die auf die Stadtentwicklung einwirken, sondern auch noch eine Vielzahl privater Player, wie etwa Unternehmen, Investoren oder Vermieter.

»Zwei wirklich schädliche Kräfte für unsere Städte sind Airbnb und Booking«, betont der Philosoph. »Der Einfluss dieser Buchungsportale bedroht konkret die Existenz bezahlbaren Wohnraums.« Wenn Behörden Verdrängung und Übertourismus tatenlos zusähen, dann träten die Bürger selbst in Aktion, wie momentan in Palma de Mallorca oder Barcelona. Labbé könne schon verstehen, dass sich dort die Anwohner*innen mit Wasserpistolen bewaffnet gegen Tourist*innen wenden. Auch Straßburg ist eine vielbesuchte Stadt, vor allem im Dezember: Letztes Jahr sind dem Rathaus zufolge 3,3 Millionen Besucher*innen für den berühmten Weihnachtsmarkt angereist. »In der Adventszeit meide ich die Innenstadt komplett«, lacht Labbé.

Die Fußgängerzone zwischen Innenstadt und Place d’Austerlitz ist gesäumt von Läden, die »Koholã Poke & Salad Bar« oder »Sam’s Donuts« heißen. Labbé winkt im Vorbeilaufen einem Bekannten zu, der auf einer der Terrassen sitzt und zu Mittag isst. Einige seiner Freunde würden hier wohnen, so der Philosoph. Die Mieten seien in den letzten Jahren natürlich enorm gestiegen, aber das Viertel ist eben eine sichere, ruhige und kinderfreundliche Umgebung für gebildete und einkommensstarke Städter*innen – eine soziale Gruppe, der auch er selbst angehört.

Allen müsse klar sein, dass die einladende »Sauberkeit« des Viertels mit der Verdrängung marginalisierter Gesellschaftsgruppen einhergeht, so Labbé. »Aber die wenigsten würden doch offen sagen: Während ich Aperol Spritz für 12 Euro trinke, möchte ich keine Obdachlosen sehen.« Labbé betont, obdachlose Menschen seien genauso sehr Bürger*innen der Stadt wie alle anderen auch; manch einer sei eine bekannte Persönlichkeit. »Viele wohnen seit Jahrzehnten auf der Straße und kennen ihre Stadt besser als jeder zugezogene Bobo.«

Diese Leute im Quartier Austerlitz, wie auch in allen anderen Szene-Vierteln, bezahlen für eine gute Lage, sichere Schulwege, Sauberkeit und Ruhe. Es drängt sich die Frage auf: Ist die Installation von defensiver Architektur etwa nicht nur eine Entscheidung armenfeindlicher, zynischer Politiker*innen, sondern demokratischer Konsens der bürgerlichen Stadtgesellschaft? »Vielleicht«, sagt Labbé, »aber es geht doch darum, sich selbst und den anderen die eigenen Widersprüchlichkeiten aufzuzeigen. Ihr wollt ein schönes, sauberes Viertel. Natürlich, aber das geht auf Kosten bereits benachteiligter Gruppen.« Mit seinem Buch will er die Leute daher fragen: »Seid ihr damit wirklich einverstanden?«

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