Karl-Marx-Allee in Berlin: Held der Arbeiterpaläste

Der Verein Stalinbauten kämpft für das historische Erbe an der Karl-Marx-Allee – ein Spaziergang mit Gründer Achim Bahr

Kölsches Herz für Ost-Denkmäler: Historiker und Ehrenamtler Achim Bahr
Kölsches Herz für Ost-Denkmäler: Historiker und Ehrenamtler Achim Bahr

Wenn er sich erst in Rage geredet habe, sei er nur schwer zu stoppen, sagt Achim Bahr und grinst. Mit verwuscheltem Haar und hochgekrempelten Sakkoärmeln betrachtet der 68-Jährige die neu eröffnete Ausstellung im »Café Sibylle«. Nach Jahren kahler Wände können sich Besucher*innen hier, im Ortsteil Friedrichshain, wieder über die Geschichte der Karl-Marx-Allee informieren und Ausstellungsstücke bewundern. Ohne die Initiative des Stalinbauten e. V. und die Hartnäckigkeit seines Vorsitzenden wäre das nicht möglich gewesen.

»Genugtuung ist das falsche Wort«, sagt Bahr. »Freude trifft es schon eher, auch wenn es hier und da noch etwas zu verbessern gibt.« Ab Anfang der Nullerjahre beherbergte das Café mit dem gelben Schriftzug eine Ausstellung zur ehemaligen Stalinallee. Nach zwischenzeitlicher Insolvenz und Neueröffnung im Jahr 2018 sei davon nicht mehr viel übrig gewesen, so Bahr. »Das meiste war weg, und keiner wollte wissen, wohin.« Bahr kontaktierte den Bezirk, hakte beim Museum Friedrichshain-Kreuzberg nach, wandte sich an das Landesdenkmalamt. Gerade der Bezirk sei nicht immer hilfsbereit gewesen.

Einige Ausstellungsstücke blieben verschwunden und doch konnten alle Beteiligten 30 000 Euro für eine Neuauflage zusammenkratzen. Während das Landesdenkmalamt 20 000 Euro beisteuerte, gaben der Stalinbauten e.V. sowie die Deutsche Stiftung Denkmalschutz jeweils 5000 Euro dazu. »In dieser Ausstellung stecken Monate ehrenamtlicher Arbeit«, sagt Bahr. Gemeinsam mit Co-Kurator Carsten Bauer habe er ein Ausstellungskonzept entwickelt, Texte für die Infotafeln geschrieben und ins Englische übersetzt.

Wer von dem architektonischen Kulturgut entlang der Karl-Marx-Allee und Teilen der Frankfurter Allee spricht, sollte unterscheiden: Zwischen dem ersten historischen Bauabschnitt von der Proskauer Straße bis zum Strausberger Platz und dem zweiten, der sich anschließend bis zum Alexanderplatz erstreckt. Bahr und sein Stalinbauten-Verein sehen sich für den älteren, ersten der beiden zuständig, bei dem die DDR-Führung vor den 60er Jahren auf Prunk und Glanz setzte. Eindrückliches Beispiel ist das Frankfurter Tor, in dessen Nähe sich auch Bahrs Wohnung befindet.

Schon bevor der gebürtige Köllner 2012 nach Berlin zog, pendelte er regelmäßig für einen Lehrauftrag in die deutsche Hauptstadt. Bahr, ausgebildet an der Kunstakademie Düsseldorf, ist Historiker, Kurator, Autor und eben auch Künstler. »Es war reiner Zufall, dass ich auf der Karl-Marx-Allee gelandet bin«, sagt Bahr. Eigentlich habe er nach Charlottenburg oder Schöneberg ziehen wollen. »Doch dann hat mir die Webseite diese Traumwohnung mit großer Terrasse vorgeschlagen.«

Nur ein paar Mal sei er zu DDR-Zeiten auf der Allee gewesen, sagt Bahr. Vor allem, um preiswerte Bücher in der Karl-Marx-Buchhandlung zu ergattern. Heute noch prangt der Schriftzug über der gläsernen Fassade, doch Bücher werden hier seit der Corona-Pandemie nicht mehr verkauft. Über 8000 Euro Miete hat der Händler laut Bahr bis zuletzt zahlen müssen – und das für nur ein Viertel der Fläche, die die Karl-Marx-Buchhandlung einst umfasste. Er findet: Die landeseigene Wohnungsgesellschaft, der die Immobilie gehört, hätte ihm ein bisschen entgegenkommen können.

Wenige Meter weiter steht eine der ursprünglich 40 Tafeln, die, unter anderem gefördert durch EU-Mittel, über die Geschichte der Karl-Marx-Allee aufklären sollen. Doch immer wieder fallen die eingeglasten Infotafeln – Bahr nennt sie »Stelen« – dem Vandalismus zum Opfer, werden bekritzelt, zerkratzt, zertrümmert. Auf seiner Webseite dokumentiert der Stalinbauten e. V. den Zustand der Aushänge, genauso wie ihren ursprünglichen Inhalt. Dem Verein wurde gestattet, Interessierte via QR-Code auf den Infotafeln weiterzuleiten.

»Wir haben gemerkt, wie wichtig es ist, hier eine Lobby zu haben.«

Achim Bahr Stalinbauten e. V.

Seit Jahren, erzählt Bahr, bitte er den Bezirk um Sanierung und Instandsetzung. »Am Frankfurter Tor haben sie einer Stele die Tür abgerissen und in die Büsche geworfen«, berichtet er. Zweimal im Jahr werde die Grünanlage gärtnerisch gepflegt. »Da wurde dann einfach fein säuberlich drum herumgeschnibbelt, bis nach Jahren endlich mal einer die Tür abgeholt hat.«

Beinahe täglich könne er beobachten, wie Tourist*innen verzweifelt versuchen, die Tafeln zu entziffern. Als Bahr einen weiteren Extremfall am Rosengarten nahe der U-Bahnstation Weberwiese präsentieren möchte, stößt er auf eine Überraschung: Die Tafel ist verschwunden. Ob der Bezirk vorhat, einen Ersatz aufzustellen? Bahr weiß es nicht.

Lange Zeit hätten die Verantwortlichen seinen Verein und das Fachwissen der Mitglieder unterschätzt. »Aber wenn ich heute eine Mail schreibe, dann wird mir auch recht zügig geantwortet«, sagt Bahr und rückt sein Sakko mit einem energischen Zug zurecht. Generell habe er entlang der ehemaligen DDR-Prunkstraße eine gewisse Bekanntheit erlangt. »Ich kenne alle hier und alle kennen mich.«

Seinen Anfang nahm das Engagement im Kampf gegen einen Immobilieninvestor, dem bei Bahrs Einzug ganze Straßenzüge im ersten Bauabschnitt gehörten. Der Köllner erzählt von sanierungsbedürftigen Treppenhäusern, um die sich der Eigentümer nicht habe kümmern wollen, und von zahlreichen Auseinandersetzungen vor Gericht. Mit fristlosen Kündigungen habe das Unternehmen versucht, ihm unangenehme Mieter*innen loszuwerden. »Einer jungen Familie wollten sie kündigen, weil die kleinen Kinderschuhe im Hausflur angeblich den Fluchtweg blockierten«, sagt Bahr. Gemeinsam habe man sich gegen den Immobilienkonzern gestemmt und gewonnen. Die Erfolge vor Gericht hätten die Nachbarschaft zusammengeschweißt.

Heute, sechs Jahre später zählt der Stalinbauten e. V. 44 Mitglieder: 22 Frauen und 22 Männer, wie Bahr beziffert. »Wir haben gemerkt, wie wichtig es ist, hier eine Lobby zu haben.« Auf städteplanerische Herausforderungen an der Karl-Marx-Allee würden Land und Bezirk in der Regel mit Achselzucken oder Bauzäunen reagieren. Dort, wo einst die bronzene Stalin-Statue stand, hätten die Behörden 18 Jahre lang drei Wasserbecken provisorisch umzäunt. »Wir wollten nicht, dass das auch mit den Grünflächen vor unseren Häusern passiert«, sagt Bahr. Ohne zivilgesellschaftlichen Druck bewege sich an der Allee rein gar nichts.

Ganz oben auf der Prioritätenliste des Vereins steht nun das Areal rund um das Kino »Kosmos«, das inzwischen gar kein Kino mehr ist. In dem denkmalgeschützten Bau fanden zu DDR-Zeiten 1001 Zuschauer*innen in dessen einzigem Kinosaal Platz. Nach der Wende wurde das »Kosmos« zum Multiplexkino mit mehreren Sälen umgebaut. Ein Fehler, findet Bahr: »Sie haben dieses ikonische Bauwerk auf der Rückseite für alle Zeit komplett zerstört.«

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Mittlerweile dient das »Kosmos« nur noch als sporadischer Veranstaltungsort. Was bleibt, sind eine verwahrloste Tiefgarage, ungenutzte Gerüste für Riesenplakate und leere Vitrinen. Ein gläserner Pavillon-Neubau auf dem Vorhof sowie ein weiterer Anbau an der Seite des Kinos verstoßen aus Bahrs Sicht gegen den Denkmalschutz. Der Bezirk müsse endlich für Ordnung rund um das »Kosmos« sorgen.

Das alles, so Bahr, sei auch im Interesse des Landes. Nach der Ende 2023 gescheiterten Bewerbung um den Status als Weltkulturerbe hat Berlin für die Karl-Marx-Allee jetzt zumindest das europäische Kulturerbesiegel im Blick. Bahr verweist auch auf die historischen Laternen am Straßenrand, die das Land dem Verfall preisgebe – und kommt auf die Infotafeln zurück: »Die Stele vor meiner Wohnung halten sie mittlerweile sauber. Offenbar denken die, dass sie mich so ruhigstellen«, sagt er. Eine weitere Fehleinschätzung.

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