Nach Kursk-Offensive: Wenig Mitgefühl mit Russen

In der ukrainischen Öffentlichkeit wird das Leid der Zivilisten nach dem Einmarsch in Kursk als gerechte Rache gesehen

  • Bernhard Clasen, Kiew
  • Lesedauer: 4 Min.
Menschen versammeln sich vor einem Wohnhaus, das nach dem Beschuss durch die ukrainische Seite in Kursk beschädigt wurde.
Menschen versammeln sich vor einem Wohnhaus, das nach dem Beschuss durch die ukrainische Seite in Kursk beschädigt wurde.

Nach dem überraschenden Einfall der ukrainischen Streitkräfte auf die westrussische Grenzregion Kursk wurden durch den Zivilschutz Zehntausende Menschen in andere Regionen Russland evakuiert, viele sind spontan vor den Kämpfen geflohen. Das Militär zieht weiter Kräfte zusammen, um den ukrainischen Angriff zurückzuschlagen. Die Behörden warnten vor Panik und forderten die Menschen auf, Ruhe zu bewahren. Doch unter diesen wächst die Verzweiflung.

In ihrer Not haben sich gut drei Dutzend russische Bürger in einem über die sozialen Netze verbreiteten Video aus dem Gebiet Sudscha an Präsident Wladimir Putin gewandt. »Innerhalb weniger Stunden wurde unsere Stadt in Trümmer gelegt«, berichten sie. »Wir haben unser Land verloren, wir haben unsere Häuser verloren. Wir flohen unter Beschuss, wir flohen und haben Trümmer zurückgelassen, viele haben ihre Dokumente zurückgelassen.« Ihre neue Lage schildern sie in düsteren Worten: »Wir sind mit unseren Kindern allein, ohne Unterkunft, ohne Geld. Viele Verwandte sind zurückgeblieben, wir können sie nicht anrufen, es gibt keine Verbindung.« Den Darstellungen von offizieller Seite wird in dem Clip widersprochen: »Vor kurzem hat der Chef des Generalstabs berichtet, dass die Lage unter Kontrolle sei, aber aktuell wird im Gebiet Sudscha schwer gekämpft.«

Ausgerechnet in der Ukraine geht dieses Video, das eigentlich für die russische Öffentlichkeit bestimmt ist und in dem die Akteure auch sagen, dass sie Präsident Putins »Spezialoperation« unterstützen, viral. Doch wer meint, diese über Nacht obdachlos gewordenen Menschen würden in der Ukraine Mitleid hervorrufen, täuscht sich.

Auf Facebook häufen sich schadenfrohe Kommentare zu dem Video. »Niemand hat den Bumerang abgeschafft« schreibt eine Ljubow Ljaktina. »Niemals verzeihen wir euch verfluchten Mördern.« Und eine Ljubow Dsjubenko kommentiert das Video mit den Worten: »Bastarde! Abschaum! Mörder!« »Jetzt wisst ihr, wie es den Ukrainern ergangen ist, als ihr in die Ukraine einmarschiert seid«, schreibt eine Ljubow Demjanenko. »Ihr Bastarde, ihr habt die Spezialoperation unterstützt. Jetzt seht zu, wie ihr da wieder rauskommt«, textet ein Andri Sidorenko. »Verreckt zusammen mit Putin« schreibt eine Marina Shushko. »Ruhm der Ukraine – und diesen stinkenden Russisten den Tod.« schreibt Nadija Nechitajlo.

»Das ist schon klasse, wie unser Oberkommandierender Olexandr Syrski diese Aktion gemacht hat,« sagt Oleg, seines Zeichens Kleinunternehmer aus Kiew, gegenüber »nd«. »Da ist aber auch nicht eine Silbe vorab an die Öffentlichkeit gedrungen. Eine absolute Überraschungsaktion.« Ihm gefällt, was er sieht. Klar, dass es Opfer unter der Zivilbevölkerung gebe, sei natürlich bedauerlich. Aber so sei es nun mal im Krieg. »Aber wir Ukrainer verüben keine Massaker wie die Russen in Butscha beispielsweise.« Russland sei im Kern aggressiv. Deswegen sei für die Ukraine die einzige langfristige Sicherheit eine Zerschlagung Russlands. Der ukrainische Telegram-Kanal Trucha untertitelt ein Putin-Porträt mit den Worten: »Ich möchte, dass die Ukraine in Russland ist«, und zeigt daneben eine Karte der von der Ukraine besetzten Gebiete.

»Mich macht es total fertig, dass hier niemand in meiner Umgebung Mitleid mit den russischen Zivilisten hat«, sagt die Krankenschwester Olga. »Das sind doch auch Menschen wie du und ich. Wir müssen dann die Rache der Russen ausbaden. Und die wird kommen, in Form von neuen Bombardierungen von Kiew.«

Wjatscheslaw Asarow, Anarchist und Blogger aus Odessa, hält nichts von der These, dass der ukrainische Angriff auf russisches Territorium ein Beitrag zu Verhandlungen sei. Auch die Gegenoffensive von 2023 sei mit der Argumentation einhergegangen, sie würde zu baldigen Verhandlungen beitragen. Allein der Ausspruch des Direktors des militärischen Nachrichtendienstes Kyrylo Budanow, man könne noch bis 2044 Krieg führen, wenn man auch 16-Jährige einziehe, zeige doch, dass man an einem zeitnahen Ende des Krieges nicht interessiert sei.

Und Olga erinnert daran, dass die russische Seite jetzt erst mal als Folge des ukrainischen Angriffs auf russisches Territorium alle Verhandlungen zum Gefangenenaustausch ausgesetzt habe. »Es gibt also nicht mehr, sondern weniger Verhandlungen« schlussfolgert sie.

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