• Kultur
  • Antifaschistischer Widerstand

Bernt H. Lund: Häftlingsnummer 76 327

Bernt H. Lund, einer der letzten Überlebenden des Konzentrationslagers Sachsenhausen, beging am 14. August seinen 100. Geburtstag

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 7 Min.
Die Lagermauer des ehemaligen KZ Sachsenhausen. Hier war Bernt H. Lund von 1944 bis 1945 inhaftiert.
Die Lagermauer des ehemaligen KZ Sachsenhausen. Hier war Bernt H. Lund von 1944 bis 1945 inhaftiert.

Abschied in Oslo vor zwei Jahren: »Wir bleiben Geschwister«, sagte Inger. »Geschwister für immer!« Ein Abend mit Nachbarn und Freunden ging zu Ende, mit gutem Essen und deutschen Gästen. Und weil alle wussten, dass es von solchen Begegnungen nicht mehr viele geben würde, umarmten sich Inger und Bernt umso herzlicher. Die Geschichte der beiden lässt sich nicht so einfach erzählen …

Eine politische Familie

Inger, inzwischen über 80, hat früher in der DDR als Ingenieurin in einem Kraftwerk gearbeitet. Sie ist die Tochter der deutschen Kommunisten Edith Raphael und Hans Holm, die vor den Nazis bis nach Norwegen geflohen waren. Der 18 Jahre ältere Bernt Henrik Lund wiederum ist – laut Wikipedia – ein norwegischer Beamter im Ruhestand, Diplomat und Politiker der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Er habe führende Verwaltungspositionen in der Stadtverwaltung von Oslo innegehabt und sei auch in auswärtigen Angelegenheiten tätig gewesen, so als Norwegens erster Botschafter in Namibia. Lund ist Träger des schwedischen Nordstern-Ordens und des Order of the British Empire. 2018 war er zum Präsidenten des Internationalen Sachsenhausen-Komitees gewählt worden.

Während er als 17-Jähriger im Konzentrationslager Grini bei Oslo eingesperrt war, half seine Mutter Sigrid Helliesen Lund, ein jüdisches Baby – Inger – vor den deutschen Besatzern zu verstecken. Frau Lund übernahm die Vormundschaft bis Ingers Vater, der wie Bernt Lund das KZ Sachsenhausen überlebte, seine Tochter nach dem Krieg wieder zu sich nehmen konnte. Von ihrem Schicksal ist in dieser Zeitung schon berichtet worden.

Im Rahmen eines Projektes der Rosa-Luxemburg-Stiftung waren wir im Mai 2022 nach Oslo gereist, zuerst in jenes Stadtviertel, das den Namen »Vaterland« trägt und wo Ingers Mutter Heiligabend 1942 von der Gestapo verhaftet wurde. Vor dem Haus in der Lakkegata 17, eine halbe Stunde Fußweg vom Hafen entfernt, erinnert heute ein »Stolperstein« an die jüdische Kommunistin, die in Auschwitz ermordet wurde. In den Parteiakten der SED tauchte sie im Rückblick als »Trotzkistin« auf, was vermutlich der Grund war, weshalb Edith Raphael von den DDR-Historikern der kommunistischen Geschichtsschreibung mit keiner Silbe erwähnt wurde.

Doch zurück zu Bernt Lund: Vom »Vaterland«, das mit Heimat nichts zu tun hat, sondern auf das holländische Waterland zurückgeht, also Wattland, sind wir bei unserer Oslo-Reise mit der S-Bahn in den Stadtteil Vinderen gefahren. Hier in der Tuengen allé 9 hatte sich Ingers Vater, der KPD-Mitbegründer und Verleger Hans Holm, nach seiner Ankunft in Norwegen einige Zeit als Gärtner betätigt – im Haus von Diderich Lund und seiner Frau Sigrid. Sie wird heute in Israel als »Gerechte unter den Völkern« hochgeehrt für die Rettung vieler jüdischer Menschen, so auch der Mädchen und Jungen aus einem jüdischen Kinderheim.

Widerstand, Haft und Überleben

Vom Widerstand seiner Mutter wusste der junge Bernt Lund lange Zeit nichts. In ihrer Autobiografie schrieb sie: »Ich war glücklich, Bernt solange es ging, aus unserer illegalen Beschäftigung herauszuhalten.« Der wiederum hielt seine Eltern für feige. Und weil er sich nicht tatenlos mit der deutschen Besatzung abfinden wollte, verteilte der 17-jährige Flugblätter und illegale Zeitungen. An einem Morgen im Mai 1942 drangen deutsche Polizisten in das Haus der Familie in der Tuengen-Allee ein. Nicht aber um die Mutter festzunehmen, der Vater war zuvor schon einmal verhaftet und freigelassen worden – die Beamten führten den Sohn ab, der »nur« Flugblätter verteilt hatte.

Bernt Lund wurde zuerst in das große Osloer Gefängnis im Stadtteil Grønland gesperrt, wo er siebzehn Tage in Einzelhaft verbrachte. Bei den Vernehmungen wurde er schwer misshandelt. Ohne Rücksicht auf sein jugendliches Alter prügelten sie den Namen eines Kameraden aus ihm heraus. Die Erinnerung daran belastet ihn seither. Überhaupt hatte Lund, wie er sagte, immer das Gefühl, vor seiner Verhaftung zu wenig im Widerstand getan zu haben. Besonders seit seiner Pensionierung machte es sich Lund zur Aufgabe, darüber aufzuklären, was Faschismus und Diktatur bedeuten. Viele Jahre hielt er Vorträge vor Jugendlichen.

Lund erzählte ihnen, wie er zuerst in das bei Oslo gelegene Konzentrationslager Grini kam. Dort wurde er in einem Außenlager eingesetzt, musste Baumwurzeln ausgraben und zerkleinern. Vor allem im Gedächtnis geblieben aber ist ihm der ständige Hunger, wie er viele Jahre später erzählte. Seine Lage besserte sich mit der Arbeit in der Kleiderkammer, wo er Kontakt zur Widerstandsbewegung hielt. Eines Nachts im Oktober 1943 wurde er geweckt und in die Kleiderkammer gerufen, um für vier Gefangene die Sachen bereitzulegen. Einer von ihnen war Christian Fredrik Fasting Aall, ein in England ausgebildeter und nach Norwegen zurückgekehrter Agent, der eine Widerstandsgruppe aufbauen wollte. »Ich wusste sofort, dass er und die anderen drei hingerichtet werden. Warum sollte die SS sonst mitten in der Nacht nach ihrer Kleidung verlangen?« Bernt Lund reichte jedem zum Abschied die Hand. Er war der Letzte, der diese Menschen lebend sah.

Im März 1944 wurden bei einem Morgenappell in Grini 33 Namen aufgerufen, einer davon war Bernt Lund, der sich drei Tage später auf dem Transport nach Deutschland wieder fand. In seinen Vorträgen erinnerte er sich immer an seine Häftlingsnummer 76 327: »Es war ein Schock nach Sachsenhausen zu kommen. Uns wurde alles weggenommen und wir wurden kahl rasiert. Wir wurden angeschrien, herumkommandiert und beschimpft. Die Behandlung, die wir erhielten, war erniedrigend, und es war vor allem eine psychische Belastung.«

Die gute Nachricht damals: Unter den Gefangenen im Stammlager Sachsenhausen traf der junge Bernt Lund auf einen Freund seiner Familie, den Deutschen Hans Holm, also genau den, um dessen kleine Tochter sich in Oslo Lunds Mutter kümmerte. Holm, im Januar 1943 in Norwegen verhaftet, war dem Block der Skandinavier zugeordnet worden, wo die Häftlinge Post und Pakete bekommen durften. So hatte er auch erfahren, dass Inger am Leben und gesund war. Und natürlich kümmerte sich Holm um den Sohn von Sigrid Helliesen Lund. Allerdings konnte auch er nicht verhindern, dass sein Schutzbefohlener zunächst in ein Außenkommando gesteckt wurde, unter den allerschlimmsten Bedingungen.

Der ehemalige Widerstandskämpfer Bernt H. Lund, geboren am 14. August 1924
Der ehemalige Widerstandskämpfer Bernt H. Lund, geboren am 14. August 1924

Auf Vermittlung Holms wurde der junge Lund dann schon bald der dritte Gehilfe des Vorarbeiterhäftlings Kurt Müller, eine Position die gar nicht vorgesehen war. Zur Person Kurt Müllers soll nicht verschwiegen werden, dass er nach dem Krieg in Westdeutschland stellvertretender KPD-Vorsitzender war und Bundestagsabgeordneter, der 1950 nach Ostberlin gelockt und nach einem Gespräch mit Ulbricht verhaftet wurde. Kurt Müller, Überlebender des Konzentrationslagers Sachsenhausen, wurde 1953 von einem sowjetischen Militärtribunal wegen »Terrors, Spionage, Sabotage, Gruppenbildung und terroristischer Tätigkeit« zu 25 Jahren Haft verurteilt. Erst 1955 kam er frei.

In seinen Memoiren erzählt Bernt Lund von einem Gespräch mit Holm Ende Januar 1945. »Er war zu Beginn des Monats 50 Jahre alt geworden, und nun hatte ihm meine Mutter einen Glückwunschbrief geschickt, den er uns zeigen wollte, weil er nicht wirklich verstand, was sie meinte. In dem Brief schrieb sie, dass sie in Südschweden einen Kindergarten für Kinder wie Titen, Bonne und Pelle vorbereiten würde.« Lund sei sofort klar gewesen, dass die Mutter ihn meinte. Titen sei sein Spitzname gewesen. »Kindertagesstätte? In Schweden? Das kann nichts anderes bedeuten als ein Aufnahmezentrum für Gefangene.« Eine halbe Stunde später wusste es jeder in der Norwegerbaracke. »Ich habe noch nie erlebt, dass sich Nachrichten so schnell verbreiten!« Die Rettungsaktion der Weißen Busse, die sich hier ankündigte, ist eine eigene Geschichte. In weiß gestrichenen mit Rot-Kreuz-Zeichen markierten Fahrzeugen wurden ab März 1945 rund 15 000 norwegische und dänische Häftlinge nach Schweden in Sicherheit gebracht. Ihre Rettung hatte der Vizepräsident des Schwedischen Roten Kreuzes, Folke Bernadotte, persönlich mit dem »Reichsführer der SS« Heinrich Himmler ausgehandelt. Diese Aktion reihte sich seitens der Deutschen in weitere Bemühungen ein, mit den Westalliierten einen Separatfrieden zu erreichen.

Besonders seit seiner Pensionierung machte es sich Lund zur Aufgabe, darüber aufzuklären, was Faschismus und Diktatur bedeuten.

Mit den skandinavischen Häftlingen, unter ihnen Bernt Lund, kam auch Hans Holm frei, allerdings erst nach einem langen Gewaltmarsch, der für viele zum Todesmarsch wurde. Holm suchte nach Ankunft in Norwegen umgehend nach seiner Tochter, die damals noch keine drei Jahre alt war. Sie hatte in Oslo in einem evangelischen Kinderheim Krieg und Besatzung überstanden. In eben diese Zeit fiel auch Ingers erste Begegnung mit Bernt Lund, mit dem sie durch die beherzte Tat seiner Mutter eine Zeit lang geschwisterlich verbunden war. Die Erinnerung daran war zwar bald verflogen. Später konnte die Verbindung zwischen beiden wieder geknüpft werden.

Bernt Lund lebt heute in einem Pflegeheim, wie seine Tochter Tanja in einer E-Mail berichtet. Dort habe er eine sehr nette deutsche Betreuerin, die aus Oranienburg kommt. »Sie spricht mit ihm Deutsch und er versteht es gut.« Seinen 100. Geburtstag am Mittwoch haben Familie und Freunde den ganzen Tag mit ihrem Vater gefeiert.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das beste Mittel gegen Fake-News und rechte Propaganda: Journalismus von links!

In einer Zeit, in der soziale Medien und Konzernmedien die Informationslandschaft dominieren, rechte Hassprediger und Fake-News versuchen Parallelrealitäten zu etablieren, wird unabhängiger und kritischer Journalismus immer wichtiger.

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!

Unterstützen über:
  • PayPal