»Rave the Planet«: Kinky Karneval mit Grenzüberschreitungen

Hunderttausende Menschen feierten am Brandenburger Tor das Techno-Fest »Rave the Planet«

Feiernde auf der Techno-Veranstaltung »Rave the Planet«
Feiernde auf der Techno-Veranstaltung »Rave the Planet«

Die ersten Partymäuse kommen mir am Potsdamer Platz entgegen, viele Männer tragen Sonnenbrille und lassen stattdessen das Shirt zu Hause. Dabei überzeugt mich der Blick gen Himmel vom Gegenteil: Es ist überwiegend grau, die Sonne geht sparsam mit ihren Strahlen um. Das hält die Meute aber nicht von ihrer Feierei ab. Unter dem Motto »love is stronger« – also Liebe ist stärker – fahren riesige Partywaggons, organisiert von der Techno-Vereinigung »Rave The Planet«, die Straße des 17. Juni auf und ab. Mit 300 000 tanzenden Menschen.

»Die Rave The Planet Parade ist eine kulturpolitische Demonstration, bei der wir uns für Frieden und den Schutz der elektronischen Tanzmusikkultur einsetzen«, schreiben die Organisator*innen auf ihrer Webseite. Am vergangenen Samstag sollte von 14 bis 22 Uhr die Aufmerksamkeit auf ihre Forderungen gerichtet werden: den Schutz von Clubs und Veranstaltungsorten, die Abschaffung aller gesetzlichen Tanzverbote sowie die Einführung eines gesetzlichen Feiertages, der der elektronischen Musik gewidmet ist. Die letzte Forderung ist die Einzige, die sich nicht in irgendeiner Weise Musik widmet: Frieden und Abrüstung.

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Auf halber Strecke zum Brandenburger Tor nehme ich meine Kopfhörer raus, meine melancholische Musik kollidiert mit dem fröhlichen Bass aus den Boxen. Ich steige vom Rad ab und überlege, wo ich es am besten hinstelle, ohne dass es jemand anpinkelt oder seine leere Flasche in den Korb stellt, als ich ein bekanntes Gesicht sehe. Der Freund umarmt mich und erklärt, dass er und sein Freund auf dem Sprung seien, um noch mehr Leute abzuholen. Danach aber wollen sie wieder gemeinsam zurückkommen.

Keine zehn Minuten später auf der Straße des 17. Juni entdecke ich das nächste bekannte Gesicht. Er steht mit seinen Freund*innen auf dem Mittelstreifen und tanzt. Er liebe es, er feiere es, ruft er über den lauten Bass hinweg. Aber die Planung sei blöd, gibt er zu. Auf meine Frage »Welche Planung?« erklärt er, dass die Waggons nur im Kreis fahren und sich gegenseitig mit ihrer eigenen Musik beschallen würden. Er, der auf dem Mittelstreifen steht, bekomme immer wieder die volle Dröhnung von beiden Seiten, aber mit unterschiedlichem Rhythmus und Melodie.

Ich laufe weiter und quetsche mich zwischen Menschenmassen hindurch. Viele tragen Schwarz und kinky, als würden sie im Anschluss im Kitkat landen, einem berüchtigten Club für sexuelle Freizügigkeit. Andere sprühen mit viel Glitzer, bunter Schminke und Gender nicht-konformen Outfits eher Christopher-Street-Day-vibes aus. Einzelne wenige verbreiten hingegen Karnevalstimmung, indem sie sich als Pharao verkleiden oder als Dinosaurier die breite Straße für sich beanspruchen. Und dann gibt es noch jene, die mich mit ihrem lallenden Gebrüll an Hooligans erinnern. Die Liebe zum Techno und Freude zum Tanzen eint die heterogene Masse. Vermutlich eint sie aber auch schlichtweg die Lust auf erotischen Körperkontakt.

»Ficken für den Weltfrieden«

Satz auf einem Plakat auf dem »Rave the Planet«

Denn während die meisten Tanzenden ihre Fäuste in die Luft heben, laufen einzelne wenige auch mit Plakaten herum. »Back to offline dating please« (Zurück zum offline Dating bitte) steht auf einem, »Dildos statt Blumen« auf einem anderen. Auf einem Schild sehe ich in Großbuchstaben »Ja ich will!«, nur um auf der Rückseite »Ficken« zu lesen. Ein Demonstrant auf einem Wagen mit dem Transparent »Ostfunk Goanautika« hält ein Plakat hoch mit »Ficken für den Weltfrieden«.

Manche müssen das mit dem Flirten aber noch ein bisschen üben. Ein etwa gleichaltriger Mann starrt mich von der Ferne an. Als ich vorbeilaufe, zieht er an meinem Pferdeschwanz. Meinen verstörten Gesichtsausdruck erwidert er mit einem Lächeln und geistesabwesenden Blick, wortlos laufe ich also weiter. Ein anderer schreit mir »Biutiful!« ins Ohr, als ich abseits der Masse kurz stehenbleibe, um meine Jacke auszuziehen. Ein Dritter schafft es fast, dass ich vor Schreck vom Rad falle, als er mir beim Vorbeigehen an meine Seite springt und laut brüllt.

Mit weiteren Grenzüberschreitungen gingen die Raver*innen ebenfalls nicht geizig um. So notierte die Berliner Polizei insgesamt 122 Festnahmen und 56 Strafanzeigen, 77 Prozent der Festgenommenen waren männlich. Mit zwölfmal gab es die meisten Strafanzeigen wegen einfacher, siebenmal kam es zu gefährlicher Körperverletzung. Achtmal wurden Vollstreckungsbeamt*innen tätlich angegriffen. Außerdem notierte die Polizei diverse Beleidigungen, Verstöße gegen das Waffengesetz, sexuelle Belästigungen, Diebstahl und Sachbeschädigung. Vier Anzeigen wurden wegen Vergewaltigung gestellt. So viel zu starker Liebe.

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