Werbung

Westjordanland: Widerstand ohne Waffe

Das Theater des Friedens in Dschenin setzt Kontrapunkte im Nahost-Konflikt

  • Mirco Keilberth, Dschenin
  • Lesedauer: 8 Min.
Der Friedhof der Märtyrer liegt nur wenige hundert Meter von dem Theater entfernt.
Der Friedhof der Märtyrer liegt nur wenige hundert Meter von dem Theater entfernt.

Während die Verhandlungen in Katar die Hoffnungen auf ein Ende des Krieges in Gaza geweckt haben, eskaliert die Lage in dem von Israel besetzten Westjordanland. Vergangene Woche zündeten radikale Siedler in dem Dorf Jit bei Nablus Häuser an, fast täglich werden Palästinenser von ihrem Land vertrieben. Vor allem in den Flüchtlingslagern schließen sich immer mehr Jugendliche dem bewaffneten Widerstand gegen die Besatzung an. Brennpunkt der Auseinandersetzungen mit der israelischen Armee (IDF) ist Dschenin. Fast wöchentlich versuchen die Soldaten mit überfallartigen Razzien, die meist minderjährigen Milizionäre aufzuspüren. Ende Juli machte das in Dschenin aufgenommene Bild von einem auf der Motorhaube eines israelischen Armeejeeps festgebundenen Jugendlichen weltweit Schlagzeilen. Doch mittlerweile ringen auch verschiedene palästinensische Widerstandsgruppen um die Macht.

Der Schauspieler Ahmed Tobasi und seine Mitstreiter wollen den Kreislauf der Gewalt durchbrechen. Aber auch ihr »Theater des Friedens« gerät immer wieder zwischen die Fronten. Tobasi steht wie jede Woche an dem Grab eines Schauspielkollegen und hält ein paar Minuten inne. Der Friedhof der Märtyrer liegt nur wenige hundert Meter von dem Theater entfernt. Die beiden Orte symbolisieren die Optionen, vor denen viele Palästinenser im Westjordanland sehen: bewaffneter oder ziviler Widerstand.

Der Grabstein vor dem Ahmed Tobasi steht, ist einer der wenigen, auf dem keine Kalaschnikow oder das Bild eines Milizionärs in Siegespose zu sehen ist. »Viele die hier liegen, waren Zivilisten, die auf offener Straße grundlos erschossen wurden«, sagt Tobasi. 200 junge Männer aus Dschenin sind laut Stadtverwaltung in den vergangenen Jahren bei Razzien der israelischen Armee gestorben. Die Wut auf die Besatzer werde sich in der Zukunft auch gegen Palästinenser wenden, fürchtet der 38-Jährige.

Steiniger Weg zu einer offenen Gesellschaft

Als Tobasi zurück zum Theater geht, zeigt er auf eine von Panzerwagen beschädigte Verkehrsinsel. Auf den zerbrochenen Steinen stehen die Namen der Orte, aus denen die Familien 1948 geflohen sind, bevor sie im Flüchtlingslager von Dschenin strandeten. Sie liegen keine 60 Kilometer entfernt und dennoch unerreichbar in einem anderen Land. Niemand hier erhält eine Besuchsgenehmigung für Israel.

Vor dem Corona-Lockdown 2020 war die Lage in Dschenin so ruhig wie noch nie seit der Intifada vor 20 Jahren. Dann seien heimlich Waffen in die Stadt gekommen, wundert sich Tobasi. Er glaubt an einen bewussten Plan des israelischen Geheimdienstes Shin Bet. »Die Waffen haben die Gesellschaft schleichend radikalisiert. Auch wir Kulturschaffenden wehren uns gegen die israelische Besatzung. Aber dazu gehört auch der Kampf für eine offene palästinensische Gesellschaft.«

Es geht auch anders

Der tägliche Strom an Nachrichten über Krieg, Armut und Klimakrise bildet selten ab, dass es bereits Lösungsansätze und -ideen, Alternativprojekte und Best-Practice-Beispiele gibt. Wir wollen das ändern. In unserer konstruktiven Rubrik »Es geht auch anders« blicken wir auf Alternativen zum Bestehenden. Denn manche davon gibt es schon, in Dörfern, Hinterhöfen oder anderen Ländern, andere stehen bislang erst auf dem Papier. Aber sie zeigen, dass es auch anders geht.


Jeden Sonntag schon ab 19 Uhr in unserer App »nd.Digital«.

Der Weg zu einer offenen palästinensischen Gesellschaft ist steinig. Schon die Anfänge des Theater-Projektes in einem der ärmsten Viertel des Westjordanlandes führten unter Palästinensern und Israelis zu ungläubigem Kopfschütteln. 1989 startete Arna Mer-Khamis, einst Einzelkämpferin bei der jüdischen Elite-Einheit Palmach, das »Theater der Steine«. Eine Anspielung auf den Hagel von Wurfgeschossen, mit dem Jugendliche während der ersten Intifada auf die Razzien der israelischen Soldaten reagierten. In dem religiös-konservativ geprägten Dschenin trat die fließend Arabisch sprechende Mer-Khamis stets mit einem Palästinensertuch auf, ihre Theaterkurse für Kinder aus dem Flüchtlingslager waren sofort gut besucht. Doch nach der zweiten Intifada 2002 lagen die angemieteten Übungsräume in Trümmern. Mer-Khamis’ Sohn, Juliano, versuchte 2006 unter dem Titel »Freedom Theater« einen Neustart. Die Berichterstattung über das bekannteste israelisch-palästinensische Projekt führte zu üppigen Sponsorengeldern, einer Gastspieltour durch Europa und die USA.

Theaterleiter Ahmed Tobasi: »Wir scheuen uns eben nicht, in unseren Stücken Probleme anzusprechen.«
Theaterleiter Ahmed Tobasi: »Wir scheuen uns eben nicht, in unseren Stücken Probleme anzusprechen.«

»Das Projektteam erhielt viele Bewerbungen von jungen Frauen, die hofften, sich dem konservativen Weltbild ihrer Eltern hier für ein paar Stunden zu entziehen«, sagt Ahmed Tobasi. »Das gefiel den Konservatien nicht.« Doch die erste Schauspielschule im Westjordanland war auch den Besatzern ein Dorn im Auge. 2011 wurde Juliano Mer-Khamis in seinem Auto direkt vor dem Theater erschossen. Die Täter wurde nie gefasst. Das nun rein palästinensische Team machte weiter. Bis sich ab dem 7. Oktober mit dem Überfall der Hamas auf Israel wieder alles änderte. In der Nacht auf den 13. Dezember stürmten israelische Soldaten den unterhalb des Flüchtlingslagers von Dschenin liegenden Gebäudekomplex. Wie Razzien in Privathäusern gingen Möbel und Inventar zu Bruch. Vor einer Bühne prangt auch noch Monate später ein Davidstern, inzwischen von einem X übersprüht.

Ahmed Tobasi wurde in derselben Nacht zuhause verhaftet. Der künstlerische Leiter des Theaters musste vor den Augen seiner Familie auf den Boden knien und wurde wortlos in einen Armeejeep verfrachtet. Irgendwo in freier Natur wurde er mit verbundenen Augen zusammen mit anderen Mitgefangenen abgeladen. »Meine Hände waren gefesselt und ich hörte Militärfahrzeuge dicht an uns vorbeifahren. Jedes Mal denkst du, der nächste Lastwagen überfährt dich. Während der 14-stündigen Haft hätte keiner der Soldaten mit ihm ein Wort gesprochen, sagt Tobasi. »Wie die Razzien war dieser Horror eine Machtdemonstration.«

Theatermanager Mustafa Sheta war auch unter den Verhafteten und wurde von einem Militärrichter zu sechs Monaten Verwaltungshaft verurteilt. Palästinenser unterstehen im Westjordanland Militärrecht, israelische Siedler hingegen israelischem Zivilrecht. Shetas Haftzeit wurde offenbar noch einmal verlängert. Doch weder die Angehörigen noch Shetas Theaterkollegen kennen die Vorwürfe gegen ihn oder wissen, wo er festgehalten wird.

Das israelische Militär bezeichnet die Razzia und Verhaftungen vom Dezember als normale Anti-Terror-Operationen. Fast wöchentlich finden diese statt, zuletzt starben Anfang August bei einem Feuergefecht mit der Armee sechs Jugendliche.

Die 40 000 Bewohner des Flüchtlingslagers leiden unter der ständigen Gewalt, die sich mittlerweile auf die gesamte Westbank ausgebreitet hat. »Auch wir Jugendlichen benötigen unser Theater in Ramallah als sicheren Ort, wo wir unseren Gefühlen Ausdruck verleihen können und offen reden können«, sagt Yasmin, eine Schauspielerin aus Ost-Jerusalem, die für eine Theater-Probe nach Dschenin gereist ist. Für 100 Kilometer hat sie wegen der zahlreichen neu eingerichteten Kontrollpunkte mit ihrem Wagen fünf Stunden gebraucht.

Mit der zunehmenden Gewalt sinkt auch die Toleranz gegenüber Kulturprojekten. Die Militanten sehen dies mindestens als Zeitverschwendung. In Dschenin vermuten einige sogar die Islamisten hinter dem Mord an Juliano Mer-Khamis. Themen wie Frauenrechte, mentale Gesundheit, und das selbstbewusste Auftreten der Schauspielerinnen wird in islamistischen Kreisen immer wieder heftig diskutiert. Zwei Jahre vor Juliano Mer-Khamis’ Ermordung hatte jemand Molotowcocktails in den Proberaum geworfen.

»Wir scheuen uns eben nicht, in unseren Stücken Probleme anzusprechen«, sagt Ahmed Tobasi. Patriarchalische Strukturen sind ebenso ein Thema wie die brutale israelische Besatzung und die Korruption der hier zuständigen palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah.

»Seit dem 7. Oktober ist unser Budget um 70 Prozent geschrumpft«, sagt Ahmed Tobasi. Palästinensische NGOs müßten sich gegenüber europäischen Projektpartnern nun gegen den »Widerstand« bekennen, klagt er. »Doch soll ich entscheiden, wer Terrorist ist und wer nicht? Wir versuchen junge Menschen aufzuklären, zu unterstützen, solche eindimensionalen Forderungen aus der EU kann man in so einem komplexen Umfeld nicht erfüllen.«

Tobasi kennt in Dschenin auch diejenigen, die eine andere Form des Widerstands gewählt haben. Während der zweiten Intifada schloss er sich selbst dem Islamischen Dschihad an, mit 17 Jahren wurde er von der israelischen Armee verhaftet. Nach vier Jahren Haft, eine Zeit, über die er ungerne spricht, brach er mit der Milizenkultur. Juliano Mer-Khamis’ motivierte ihn zu einem Schauspielkurs. Er beantragte Asyl in Norwegen, ließ sich zum Schauspieler ausbilden und kehrte nach dem Mord an Juliano Mer-Khamis zurück. »Wir können auch ohne Geld lange durchhalten, denn wir kämpfen hier um die Zukunft unserer Gesellschaft.«

Alle Theater im Westjordanland haben mit Herausforderungen zu kämpfen. Das Palästinensische Nationaltheater El-Hakawati in Jerusalem verlor sein Stammpublikum, als Israel Anfang der 2000er Jahre mit dem Bau einer Sperranlage um das Westjordanland begann. »Nach dem Bau der Mauer und der Checkpoints konnten die Leute hier nicht mehr hin, die israelische Armee schließt die Tore abends um acht Uhr«, sagte der Direktor Amer Khalil.

Die Zeiten, in denen Regisseure ihr Skript bei der israelischen Zensur einreichen mussten, seien zwar vorbei. »Doch unsere Schauspieler sind von Verhaftungen bedroht oder einfach nur von den seit dem 7. Oktober immer wieder spontanen Straßensperren der Armee«, so Khalil.

Das Theaterprojekt wächst informell weiter

»In Dschenin sind wir immer noch Gäste, uns gehört ja das Land nicht auf dem wir leben«, sagt Bani Garah und lacht. »Die meisten meiner Schüler erhalten Hilfe von der UNWRA-Mission der Vereinten Nationen. Die 44-Jährige kommt gerade von ihrer Schule, an der sie Schülern nachmittags Schauspiel und kreative Basteltechniken beibringt. Ihre Initiative ist eines der kleinen Projekte des Friedenstheaters. »Meine Kolleginnen und ich wollen inmitten dieser Perspektivlosigkeit den Jugendlichen und Kindern Hilfe bei den Traumabehandlung bieten.«

Über den Straßen hängen Planen, als Sichtschutz vor den Drohnen der Armee. Mindestens einmal im Monat würden wie aus dem Nichts Raketen einachlagen und junge bewaffnete Männer töten, die sich in Gärten oder Häusern verstecken. »Es sind nicht viele und sie sind chancenlos gegen die Soldaten«, sagt Abla Bani Garah. »Es ist ein verzweifelter Versuch, etwas gegen die Perspektivlosigkeit zu tun.«

»Einige meiner Schüler wurden bei den Razzien umgebracht. Von Querschlägern oder weil sie auf der Straße standen. Ich kannte sie seit ihrer Kindheit, es waren sicher keine Terroristen«, sagt die Mutter von zwei Söhnen und einer Tochter. Häufig bringt sie die drei vor Einbruch der Dunkelheit zu ihrer Schwester außerhalb des Flüchtlingslagers. Nur in der Stadt seien sie vor den Armeerazzien sicher. »Ich möchte sie und meine Theaterschüler aus diesem Kreislauf der Gewalt herausholen.«

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -