Urlaub für alle – oder Krawalle

Olivier David über die Bedeutung von Urlaub für Menschen aus der unteren Klasse

Untere Klasse: Urlaub für alle – oder Krawalle

Ich bin derzeit für ein paar Monate in Frankreich, um einen Teil meiner vergrabenen Identität zu bergen, oder eine Nummer kleiner, um die Sprache meines Vaters ein wenig besser zu sprechen. Vor ein paar Tagen sprach ich mit ihm über meinen anstehenden Urlaub am Meer und er äußerte die Beobachtung, dass im August in Frankreich eher Proletarier (er hat nicht gegendert) Urlaub machen würden, während der Juli eher der Urlaubsmonat der Mitte und der Wohlhabenderen sei.

Nun möchte ich weder des Vaters Klassenanalyse herabwürdigen, noch Kritik an seinem Distinktionsbedürfnis äußern. Unabhängig von der Evidenz seiner Aussage habe ich beschlossen, ihm Glauben zu schenken und in mir sogleich eine aufsteigende Freude bemerkt. Wenn das hieße, in meinem Urlaub am französischen Strand weniger Bobos (die französische Ausprägung des Yuppies) und dafür mehr Menschen aus meiner Klasse zu begegnen, wäre mir das ganz recht.

Olivier David

Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen.

Dabei ist Urlaub zu nehmen selbst schon ein Luxus. Knapp ein Viertel der Menschen in Deutschland können sich laut einer Umfrage gar keinen Urlaub leisten. Hinzu kommt: Einige in meinem Umfeld haben gar nicht das Bedürfnis, in den Urlaub zu fahren. Wessen Lebensalltag von permanentem Kampf bestimmt ist, dem erscheint Urlaub ungefähr so verlockend, wie in einer kleinen Kapsel zur Titanic zu tauchen. Über Jahre, teils Jahrzehnte dem permanenten Stress und Überlebenskampf in Armut ausgeliefert zu sein, kann mitunter dafür sorgen, dass Stress und Unrast als Teil des Selbstbildes fixiert wird – ich weiß, wovon ich spreche. Wer einen großen Teil seines Selbstwertes daraus schöpft, was er (oder sie) leistet, dem erscheint Ruhe nicht automatisch ein verlockender Zustand zu sein.

Und doch gilt es, die Idee des Urlaubs zu verteidigen – und den Urlaub für alle zu fordern. Schließlich sind wir keine Maschinen und unter dem Selbstbild des ständig Tätigen leiden wir früher oder später selbst am meisten. Vor sich selbst zurückzutreten und den Blick zu öffnen, das setzt Ressourcen voraus. Zunächst einmal Zeit und Geld. Schlussendlich auch Mut, schließlich – um es im Sprech des Klassenfeindes zu sagen – tätigt man ein Investment (in sich selbst) mit unklarem Ausgang. Risikokapital, sozusagen. Wird es mir nach dem Urlaub besser gehen, oder werde ich nur die Möglichkeit haben, das Hamsterrad von außen zu sehen, in das ich nach einer Woche wieder hineingezwungen werde?

Dabei ist Urlaub als proletarische Verteidigung des Ichs nicht nur als körperlich werktätiger Mensch, sondern auch als Schreibender seiner Klasse immens wichtig. Als Kolumnist, der über soziale Klasse schreibt, wird man förmlich zugeschissen mit Angriffen auf Arme, die man schreibend abzuwehren versucht. Der FDP ist das Bürgergeld zu hoch, die Union will es ganz abschaffen oder fordert lieber gleich die Bezahlkarte für Empfänger von Grundsicherung. Überall Armenhass, nirgendwo Gerechtigkeit.

Dieses Getöse von Rechts-Oben hat die Funktion, eine eigene Agenda der Unterklasse zu verhindern. Wer sich permanent gegen Angriffe wehren muss, dem verstellt sich der Blick auf seine eigentlichen Ziele. Aber genau den gilt es zu schärfen. Spätestens dafür braucht es den Urlaub für alle, um Kraft zu sammeln für die Kämpfe, die man für eine Welt führt, die es zu gewinnen gibt, anstatt sich an dem Armenhass der Herrschenden abzuarbeiten.

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