Migration: Maritimer Widerstand im Mittelmeer

Seit zehn Jahren stört die zivile Seenotrettung mit ihrer Arbeit die europäischen Staaten und ihre Grenzregime

  • Maurice Stierl
  • Lesedauer: 4 Min.
Gegen Europas tödliche Grenze: Nichtregierungsorganisation SOS Méditerranée im Rettungseinsatz
Gegen Europas tödliche Grenze: Nichtregierungsorganisation SOS Méditerranée im Rettungseinsatz

Als die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihr Innenminister Matteo Piantedosi Anfang Juli nach Libyen reisten, um an einem »Transmediterranen Migrationsforum« in Tripolis teilzunehmen, wünschte ihnen die Nichtregierungsorganisation (NGO) Sea-Watch bezeichnenderweise »das Schlimmste«. In einem Beitrag auf X erklärte die Organisation, die »dystopische« libysch-italienische Zusammenarbeit bei der Grenzsicherung erhöhe die Zahl der Toten bei der Überfahrt über das Mittelmeer weiter.

Daraufhin warf Meloni Sea-Watch ebenso bezeichnend vor, sich nicht gegen Schleuser zu engagieren, die sie für die Ertrunkenen verantwortlich machte. Sie erklärte, sie reise nach Libyen, »um den Menschenhandel, die illegale Einwanderung und das Sterben auf See zu stoppen«.

Am 25. August wird es zehn Jahre her sein: 2014 machte sich die erste nicht staatliche Rettungsorganisation im zentralen Mittelmeer auf die Suche nach in Not geratenen Booten von Migrant*innen. Seitdem ist im Mittelmeerraum ein großes Netz von Solidaritätsakteuren entstanden, das derzeit aus etwa zwei Dutzend Organisationen und Gruppen besteht.

Neben den vielen Rettungs-NGOs gibt es das Alarm Phone, eine ebenfalls vor zehn Jahren eingerichtete Notfall-Hotline, die bisher mehr als 8000 Booten in Seenot geholfen hat, im Mittelmeer, im Atlantik sowie im Ärmelkanal. Im Jahr 2017 wurde die zivile Flotte um Flugzeuge erweitert, die das Meer von oben überwachen und Rettungsschiffe zu Booten in Seenot leiten. 2019 entstand schließlich eine Koalition verschiedener Akteure, die als Koordinierungsstelle für die zivile Seenotrettung (Civil MRCC) bekannt wurde. Damit reagierte sie auf das Versagen der staatlichen Seenotleitstellen bei der Koordinierung der Rettung von Migrant*innen.

Als die NGO-Retter*innen zum ersten Mal in Erscheinung traten, gab es Bedenken, dass ihre Aktivitäten den EU-Mitgliedstaaten einen willkommenen Vorwand bieten würden, eigene Rettungsbemühungen zu reduzieren und diese stattdessen an Nichtregierungsorganisationen »auszulagern«. »Wir wollen nicht die Arbeit von Staaten machen«, war eine häufig geäußerte Sorge von Aktivist*innen in den ersten Jahren ihres Engagements.

Mittlerweile, ein Jahrzehnt später, lässt sich zweifellos feststellen, dass die EU-Staaten und insbesondere die italienische Regierung alles andere als glücklich darüber sind, dass NGOs weiterhin im Mittelmeer präsent sind. In Verleumdungskampagnen und regelrechten Kulturkämpfen werden die zivilen Organisationen verunglimpft und beschuldigt, »Taxidienste«, »Schmuggler« oder »Pull-Faktoren« für Menschen auf der Flucht zu sein. Und, zynischerweise, sogar für den Tod von Migranten verantwortlich zu sein.

Die NGOs haben der Vereinnahmung widerstanden, sich gegen Kriminalisierungsversuche gewehrt und sind weiterhin für viele EU-Staaten ein politisches Problem. Das liegt natürlich an ihrem unermüdlichen Rettungseinsatz, der zur Ausschiffung von Migranten in Europa führt – Menschen, die Meloni und andere EU-Politiker*innen viel lieber abgefangen und an ihre Herkunftsorte zurückgeschickt sähen, selbst um den Preis ihrer Inhaftierung in Folterlagern wie in Libyen.

Die zivile Seenotrettung bleibt auch deshalb ein Problem für die EU-Staaten, weil sie bei der Aufdeckung schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen, an denen europäische Akteur*innen und ihre nordafrikanischen Verbündeten beteiligt sind, eine entscheidende Rolle spielt. Nur dank ihrer unerwünschten Präsenz sind unzählige Fälle von unterlassener Hilfeleistung für Migrant*innen in Seenot sowie gewaltsame oder gar tödliche Pushbacks und Abfangpraktiken öffentlich bekannt geworden. Nicht staatliche Retter*innen legen offen, was Europa zu verbergen sucht: systematische Grenzgewalt.

Während wir die Widerstandsfähigkeit der zivilen Seenotretter angesichts der ständigen Angriffe durch staatliche Behörden feiern sollten, müssen wir am zehnten Jahrestag ihres Engagements im Mittelmeer auch innehalten. Dass wir immer noch dringend nicht staatliche Akteure brauchen, um die schwere und oft traumatische Aufgabe der Seenotrettung zu bewältigen, ist ein Armutszeugnis für Europa. Statt sichere Alternativen zur Seemigration zu schaffen, setzt die EU weiterhin auf Abschreckung. In den vergangenen zehn Jahren hat dies zum Verlust Zehntausender Menschenleben geführt.

Gleichzeitig können wir zweifelsohne feststellen, dass ein Jahrzehnt der verstärkten Militarisierung der EU-Grenzen im Mittelmeer es nicht geschafft hat, die Überfahrten zu stoppen. Mehr als 2,5 Millionen Menschen haben seit 2014 die Seegrenzen Europas überquert.

Als Meloni vor zwei Jahren ihr Amt antrat, versprach sie, eine »Seeblockade« im Mittelmeer zu errichten, um die Überfahrten von Migrant*innen zu unterbinden. Sie ist gescheitert. 2023 erreichten 157 651 Menschen über die Seewege Italien – das Niveau der Jahre um 2015. In der Zwischenzeit sind trotz aller Drohungen und Blockadeversuche immer noch mehr als 20 Rettungsschiffe auf dem Meer unterwegs, um in Seenot geratene Boote zu finden.

Angesichts des Versagens der EU-Migrationspolitik in den vergangenen zehn Jahren werden auch Melonis Reisen nach Tripolis nicht viel ändern. Die Migration über das Mittelmeer wird weitergehen. Auch in absehbarer Zukunft werden die zivilen Seenotretter*innen an Europas tödlichen Grenzen weiter dringend gebraucht.

Maurice Stierl leitet die Forschungsgruppe »The Production of Knowledge on Migration« am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück und engagiert sich bei Alarm Phone.

Nicht staatliche Retter*innen legen offen, was Europa zu verbergen sucht: systematische Grenzgewalt.

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