So isser, der Sachse

Warum ich auch nach fünf Jahrzehnten trotz Assimilationsversuchen in Sachsen nicht heimisch werden konnte

  • Michael Bartsch
  • Lesedauer: 9 Min.
Meißner Porzellan können die Sachsen. Da sind sie Weltmeister.
Meißner Porzellan können die Sachsen. Da sind sie Weltmeister.

Ich bin mir bewusst, dass Ketzerei gegen das sächsische Hochwesen die Höchststrafe nach sich ziehen muss: Aberkennung der sächsischen Staatsbürgerschaft und Verhängung der Reichsacht. Also ein Zustand, in dem ich mich als Fremder nach mehr als 50 Jahren vergeblicher Assimilationsversuche ohnehin schon befinde. Unausweichlich muss ich den heimtückischen Zorn des Volkes auf mich ziehen, das doch das auserwählte sein will, wenn auch nicht in dem zumeist kolportierten Sinn.

Denn der Sachse vergisst nie, was man ihm angetan hat. Und spätestens seit dem von Karl dem Großen befohlenen Verdener Blutbad 782 tut ihm die Geschichte ständig Übles an. »Taufe oder Tod« hieß es damals, und eine solche Alternative mag der Sachse gar nicht. Der »Sachsenschlächter« Karl hängt als großer deutscher Nationalheld übrigens seit 2014 auf dem Dresdner Landtagsflur jener »Alternative«, die die Sachsen inzwischen so mögen. Ein erster Hinweis auf deren masochistische Grundanlage.

Die derzeitige gegenseitige Entdeckung von Volk und neuer blaubrauner Volkspartei beruht auf enger Gemütsverwandtschaft und kommt in ihrer sich alternativ gerierenden Attitüde nur folgerichtig. Der Grundgestus des Sachsen ist der der »beleidigten Leberwurst«, dem die Partei der schlechten Laune trefflich entgegenkommt. Der Sachse ist der Homo dolorosus schlechthin, den Leidensblick gesenkt oder vorwurfsvoll gen Himmel gerichtet ob der erlittenen Verluste. Tief sitzt das kollektive Trauma der Underdogs, der historischen Verlierer, der zu kurz Gekommenen. Zumindest seit etwa 250 Jahren.

Zuvor hatten die Sachsen ganz ordentlich losgelegt. Selbst zwangschristianisiert, hielten sie sich ihrerseits an den Slawen schadlos, die sie vertrieben und von denen nur das schmale Siedlungsgebiet der Sorben in der Lausitz übrigblieb. Es ging aufwärts während der wettinischen Herrschaft, die ihren Höhepunkt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erreichte, im Goldenen Zeitalter unter dem bis heute omnipräsenten Kurfürsten August dem Starken. Da waren Sachsen noch europäisch und weltoffen. Sie ließen sogar Ausländer herein wie den Italiener Chiaveri, den Franzosen Longuelune und den Bayern Permoser, die ihnen in Dräsdn hübsche Kirchen, Barockigkeiten und Skulpturen schufen. Habsburger Exilanten hatten zuvor beim Aufbau nach dem Dreißigjährigen Krieg geholfen.

Zunehmend aber ham’se in der Geschichte einiges verbumfiedelt. Isses einfach nur menschlich allzu menschlich oder entspringt es einem sächsischen Gemütsdefekt, dass der Wunsch der Sachsen nach Entschiedenheit, ja Totalität stets durch Wankelmütigkeit konterkariert wurde? Selbstreflexionsfähigkeit gilt nicht gerade als Stärke der Sachsen. Aber die durchaus nennenswerte Zahl der Kenntnisreichen und Verständigen unter ihnen weiß, dass der Volksstamm meist auf der falschen, das heißt nach weltlichen und militärischen Maßstäben erfolglosen Seite stand.

Die orthodoxe Lehre Luthers in Abgrenzung zu den Calvinisten wurde im 16. Jahrhundert geradezu sächsische Staatsreligion. Niemand aber käme auf die Idee, August dem Starken seine Konversion zum Katholizismus 1697 vorzuwerfen, um aus machtpolitischen Erwägungen heraus die polnische Krone zu erlangen. Zuvor hatte Sachsen im Dreißigjährigen Krieg erst aufseiten des Kaisers gestanden, bevor es sich ab 1631 auf die schwedische Seite schlug, woran Wallenstein gewiss einen Anteil hatte. Der starke August kungelte noch mit dem Rivalen Preußen, bevor Sachsen an der Seite Österreichs gegen ihn im zweiten Schlesischen Krieg verlor. Die Schlacht bei Kesselsdorf 1745 fünf Kilometer vor Dresden besiegelte den Verlust. 1760 zerdonnerten im Siebenjährigen Krieg preußische Kanonen Dresden, aber 1778 standen beide schon wieder Seit’ an Seit’ im Bayerischen Erbfolgekrieg gegen die Habsburger.

Diese Eierei fand ihren Höhepunkt in der Napoleonischen Zeit. Erst kämpfte Sachsen 1806 in der Schlacht bei Jena und Auerstedt gegen Napoleon und verlor gemeinsam mit den Preußen. Zum Dank für seinen anschließenden Seitenwechsel erhob der Imperator Kurfürst Friedrich August III. zum sächsischen König. Dieser blieb bis zum letzten Tag der Leipziger Völkerschlacht im Rheinbund, bevor er es sich schnell noch anders überlegte. Zu spät. Auf dem Wiener Kongress 1815 verlor Sachsen zur Strafe mehr als die Hälfte seines Territoriums und 42 Prozent der Einwohner an Preußen.

Dieses Trauma fand und findet seither seine Kompensation in einer trotzigen Selbstbezogenheit und Hermetisierung, die nicht einem natürlichen Selbstbewusstsein entsprang, aber einen neuen Sachsenstolz beförderte. Denn das 19. und frühe 20. Jahrhundert brachte beachtliche kreative Leistungen der Sachsen während der Industrialisierung und die dichteste Kulturlandschaft Deutschlands hervor. Eine nur zu lobende Trotzreaktion, wenn militärischer Energieaufwand in Technik und die Künste umgeleitet wird.

Bis heute aber spürbar ist der sächsische Wunsch, endlich einmal auf der richtigen Seite zu stehen. Eine der im DDR-Volk kursierenden ironisch-alternativen Mai-Losungen lautete: »Wir wissen zwar nicht, was wir wollen, aber das mit ganzer Kraft!« Die sprichwörtliche deutsche Gründlichkeit ist eigentlich eine sächsische. Ich nenne das einen stillen Radikalismus, ja Fanatismus.

Der erste internationale antijüdische Kongress fand 1882 in Dresden statt, der zweite ein Jahr später in Chemnitz. Nach Bayern fasste die NSDAP nirgendwo so schnell Fuß wie in Sachsen, hatte in keinem Reichsgau relativ zur Einwohnerzahl so viele Mitglieder. Nachdem das Braunsein gründlich danebengegangen war, war Rot angesagt. Nicht nur in der Ära des Leipzigers Walter Ulbricht als Staatsratsvorsitzender galten die Sachsen als die Rötesten. Ihr Einfluss im Berliner Apparat gab dem DDR-Staatsvolk Anlass für viel Spott. Der wohl beliebteste DDR-Komiker Eberhard Cohrs, 1921 in Dresden geboren, besaß immerhin die Fähigkeit zur Selbstironie: »Wenn in Berlin ’ne Demo stattfindet, latscht garantiert een Sachse vorneweg!«

Als der Wind in Osteuropa drehte, bekam auch der Sachse Witterung und meinte ganz entgegen seinem Naturell, es sei Zeit für eine Revolution. Denn er steckt niemals gern den Kopf heraus, es sei denn, viele andere Köpfe tun es auch. Bis heute lassen sich Sachsen als die Helden feiern, die 1989 ein westlich-freiheitlich-demokratisches System herbeidemonstrierten, das große Teile von ihnen auf der Straße und an der Wahlurne nun wieder in Grund und Boden rammen. Mehr Schizophrenie geht nicht! Immerhin stiegen die Sachsen mit der Wiedervereinigung nun zu den Deppen der Nation auf.

Jetzt, wo es wieder losgeht, möchte der Sachse halt och dabei sein. Blau muss doch endlich mal passen! Aber dabei sein und eine positive, selbst entwickelte Alternative einzubringen, sind zwei verschiedene Dinge. Für etwas zu sein und nicht nur maulend dagegen, würde mit dem sächsischen Idealbefinden ewigen Beleidigtseins kollidieren. In diesem Dilemma ist die latente Aggressivität vieler Sachsen zu einer ernst zu nehmenden offenen herangewachsen. Es bedurfte nur noch der Propheten des Missmuts. Pegida entstand nicht von ungefähr in Dresden, die AfD stößt hier folgerichtig auf größte Resonanz.

Vielleicht ein Jahrzehnt vor diesem offenen Herauslassen der emotionalen Stausau wurde das Grummeln spürbarer. Zuvor witzelten wir als Dresdner Studenten mit nichtsächsischem Migrationshintergrund in den 70ern nur über das skurrile, aber nicht unsympathische Gastgebervolk. Über mich wurde unter Kommilitonen oder bei den alten Thüringer Freunden auch gespottet, weil das sächsische »Nu« in meinen Wortschatz gerutscht war. Das war in einer harmlosen Phase zugleich der Kulminationspunkt meiner ansonsten erfolglosen Assimilationsversuche. Gefühlte Distanz beeinträchtigte die friedliche Koexistenz damals nicht. Erst seit Beginn der Zehnerjahre kann ich benennen, was mich zum Fremden macht.

Dabei sind mir Stereotype eigentlich zuwider. Ich suchte nicht nach Bestätigung vorgefasster Meinungen, aber zunehmend musste ich entdecken, dass alle kolportierten Klischees über die Sachsen tatsächlich stimmen. Im Gegenzug erscheinen die meisten Legenden ihres Selbstbildes als von den im Grunde zutiefst verunsicherten Sachsen nur zu ihrer Selbstermunterung aufgebaut. Der gemütliche Kaffeesachse ist solch ein von manchen Histörchen genährtes schiefes Selfie. Die Volkskomiker Uwe Steimle alias Günter Zieschong und Tom Pauls als Oma Ilse Bähnert pflegen das Wunschbild des »näddn« und gegenüber allen Zeitläuften resistenten und resilienten Sachsen.

Wenn es um nichts geht, trifft es sogar zu. In seiner einfältig-hausbackenen Art tritt der Sachse Auswärtigen durchaus freundlich gegenüber, sofern diese nicht allzu nichtsächsisch-bedrohlich aussehen. Aber schon beim Bäcker, beim Stammtisch sowieso und beim Fußball erst recht zeigt er dieses Ningeln, auf gesamtdeutsch etwa mit »Meckern, ohne etwas zu tun« zu übersetzen. Lerne klagen ohne zu leiden! Aber der Sachse muss um seiner Identität willen immer leiden.

Und dieses Leiden brach sich gefühlt seit den Zehnern Bahn. Der Radfahrer bekam es zuerst zu spüren. Geht überhaupt nicht, einen als Radweg deklarierten Acker zu ignorieren und mit 40 Kaemmha auf dem Rennrad die Straße zu benutzen. Oder sich mit einem Sprint im Verkehrsdickicht einen Vorteil zu verschaffen. Es bleibt nicht beim Hupen, ich werde auf die Kante genommen und über den Bordstein gedrängt oder mit einem Vollbremsmanöver zum Ausweichen gezwungen. Oder vorsätzlich angefahren, was den lieben Mitbürger allerdings den Rückspiegel kostete – den rechten!

Denn der gemütliche Sachse ist der verbissenste Preuße, wenn es um Vorschriften geht – daher die historische Mesalliance. Und die allmächtige Polizei muss in jedem Fall verständigt werden. Das Reizklima erlebt man nicht nur bei Nachwendegeschädigten, sondern auch bei Frühdenunzianten und Frühaufpassern der Generation Z.

Mit der anrollenden Klagewelle auf der Straße und im Internet schlief auch langsam ein, was von Hausgemeinschaft im Zonenstil noch übrig war. Sommerliche Grillfeste im Hof oder spontane Einladungen beispielsweise. An eine früher gemeinsam errichtete Kinderschaukel war nicht mehr zu denken. Stattdessen hingen empörte Beschwerden von »Kunstsachverständigen« über das Aleppo-Bus-Mahnmal vor der Frauenkirche im Hausflur, denunziert der Hauswart bei der Hausverwaltung, dass da »ein Neger« ein paar Wochen bei mir gewohnt habe.

So isser, der nädde Saggse, immer hintenrum und daher hervorragend diktaturgeeignet. Das »Rote Sachsen« war ohnehin nur die Folgeerscheinung eines hier besonders schnell durchbrechenden Radikalkapitalismus zu August Bebels Zeiten. Nach Gemütsverfassung ist der Durchschnittssachse zutiefst schwarz, schwarzbraun bis royalistisch, egomanisch dickköpfig und autoritätshörig zugleich und deshalb demokratieungeeignet. Die Minderheit der hellen und aufgeklärten Geister, die es selbstverständlich auch hier gibt, zeigt sich manchmal schon fassungslos ob der Metamorphosen ihrer Landsleute. Die, so meine These, gar keine Metamorphosen, sondern Ausdruck eines kollektiven Traumas sind.

»Ä Häppchen doof« hat der Sachse selbst die treffendste Wendung für sich geprägt. Die ganze Welt ist ihm halt zu verzwatschelt, die kann doch keiner begreifen! Er muss seine Nationaldichterin Lene Voigt bemühen, um einmal lachen zu können. Denn wer zwanghaft dickschen muss, kann keinen Humor entfalten. Wer sich nicht ernst genommen fühlt, auch nicht.

Der Dadaist Richard Huelsenbeck hat vor 100 Jahren gegen die »bösartige Gemütlichkeit« polemisiert. Sie trifft auf die Österreicher ebenso zu wie auf die Sachsen. Ich räume ein, dass das gelegentlich im Affekt entfahrende Schimpfwort »Du Sachse« dem gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht zuträglich ist. Es wird übrigens noch übertroffen von dem vorsätzlich und bewusst beleidigend gebrauchten Schimpfwort »Du Volk!«. Zu entschuldigen mit einer in Jahren des Pegida-Intimkontakts gewachsenen Allergie.

Ich weiß, mit Sachsen-Bashing, mehr noch mit nachsichtigem Lächeln, treibt man die stolze sächsische Nation in die kollektive Einsamkeit! Aber nicht einmal »König Kurt«, der Messias Kurt Biedenkopf der 90er Jahre, lobte seine Sachsen 2019 im Wahlkampf noch als Gottes auserwähltes Volk, sondern schalt sie in seinen letzten Jahren ob ihrer AfD-Anfälligkeit. So erscheint es nur folgerichtig, dass die aus dem Erzgebirge einsickernden rechtsextremen »Freien Sachsen« den Säxit anstreben und auf einem neuen Kontinent siedeln wollen. Oder besser gleich auf einem eigenen Planeten.

Jetzt, wo es wieder losgeht, möchteder Sachse halt och dabei sein.

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