Von Viechern, Menschen und Gespenstern

Aurora Venturini spürt ihrem seltsamen Leben nach

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 4 Min.
Aurora Venturini, aus sizilianischer Großfamilie stammend
Aurora Venturini, aus sizilianischer Großfamilie stammend

Was wäre wohl aus mir geworden, fragt sich die Heldin dieses Buches am Ende ihrer Erzählung, wenn ich nicht ein wenig autistisch wäre; was wäre aus mir geworden, wenn ich der Objektivität ohne Pforte zur Fantasie ausgeliefert wäre? Und vor allem, was wäre aus mir geworden, derart von der Familie entfremdet, ohne meine Hochbegabung?

Wohl kaum die erfolgreiche Autorin und wissbegierige Lebenskünstlerin, deren Geschichte in diesem Roman beschrieben wird, könnte man als schnelle Antwort gelten lassen. Eine Geschichte, die von der ersten Zeile an fesselt, denn sie ist so anders als alle möglichen Schicksale, von denen wir schon lasen oder hörten. Armselig und beglückend, fremd und vertraut, schön und grausam – alles gleichzeitig.

Maria Micaela Stradolini, genannt Chela, wird von ihrer schönen Mama im Argentinien der 1920er Jahre zur Welt gebracht. Die Ich-Erzählerin beschreibt sich als dürre, dunkelhäutige Erstgeborene mit Glubschaugen. »Stradolini ist die Hässlichste von allen«, sagt eine Freundin bei ihrer Kommunion. Trotz der weißen Spitze, in die man das Kind gezwängt hatte, habe sie ausgesehen wie ein langbeiniger junger Nandu an einem gänzlich ungeeigneten Ort für ein Reiherküken, erinnert sich Chela. Tollpatschig sei sie gewesen wie Charlie Chaplin, ihr hässliches und nervöses Gelächter schlug Familie und Freunde gleichermaßen in die Flucht.

Als sie jemand als Viech bezeichnet, weil sie bevorzugt mit den Händen isst und auch darüber hinaus nicht allzu viele menschliche Gebärden anwendet, ist sie nicht entsetzt. Sie liebt ja Tiere und zieht sich alsbald mit der Eule Bertold, der Eidechse Josefina, einigen Katzen und später gar mit der Schildkröte Bertha auf den Dachboden des Landhauses in Argentinien, Quinta, zurück. Bertha wird sie später gar mit auf ihre Reisen nach Übersee nehmen, lebendig, an einer Silberkette um den Hals gehängt.

Doch wenn es sich auch fantastisch anhört, entwickelt sich die Geschichte leider nicht zu einem Märchen, denn während Chela seelisch verkümmert scheint, häuft sie in Windeseile Wissen an, überspringt die Schuljahre mit Siebenmeilenstiefeln und schockt ihre Umgebung mit dieser intellektuellen Übermacht. Ihr Vater, der sizilianische Vorfahren hat, zieht sich in die Stadt zurück und taucht lediglich in Chelas Leben auf, um ihre Verfehlungen zu richten oder ihr zu drohen. Die Mutter hat sich längst von der Missratenen ab- und der gefälligen Zweitgeborenen zugewandt. Ihren schwerstbehinderten Sohn überlässt sie Chela, die auf dem Dachboden der Quinta ein freundliches, offenes Haus für alle »Viecher« pflegt, für das es weder in der Familie noch in der verbohrten Dorfgemeinschaft ein Vorbild gibt.

Überall will man diese sperrige Person, die brutal ausspricht, was sie weiß, loswerden. Das kennt Chela schon: »Ich hatte mit den Töchtern Marias bereits die Selbstbefriedigung in der Jugend besprochen; mir mangelte es an affektiven Bedürfnissen, ich hatte nie Liebe erfahren, mein Geschlecht schlief blockiert von meinen so herausragenden intellektuellen Fähigkeiten.«

Aurora Venturini hat viel von ihrem eigenen Leben in diesen überbordenden Roman gepackt. Sie hat, wie ihre Übersetzerin Johanna Schwering im Nachwort erklärt, 60 Jahre lang unermüdlich geschrieben und über 30 Werke beinahe unbeachtet publiziert, ehe sie 2007 mit 85 Jahren einen Preis für ihr Buch »Die Cousinen« sowie Anerkennung in ihrem Heimatland erhielt. Auch der Übersetzerin gilt großer Respekt, denn es war gewiss eine Herausforderung, der blumigen, ungewöhnlichen und mitunter brutal gewöhnlichen Ausdrucksweise der Autorin gerecht zu werden. Und was macht sie, wenn diese ihren Lieblingsdichter Rimbaud nach Belieben umzitiert?

Lesen Sie selbst und erfahren, wie die hochbegabte Chela-Aurora dank ihrer vermögenden Familie, deren Mitglieder im Laufe der Jahre versterben, studiert und die Welt bereist. Wie sie sich am Ende in ihre sizilianische Großtante aus den Reihen der Casertas verliebt und dennoch auf den Dachboden der heimischen Quinta zurückkehrt.

Aurora Venturini: Wir, die Familie Caserta. dtv, 239 S., geb., 24 €.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.