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Uber Eats: Mindestlohnbetrug und Scheinselbstständigkeit
Ehemalige Uber Eats-Beschäftigte schildern »nd« fragwürdige Beschäftigungsverhältnisse
Fünf Jahre ist es her, dass der Lieferdienst Deliveroo – der mit den türkisen Rucksäcken – sich plötzlich aus der Hauptstadt zurückzog. Die überwiegend selbstständig beschäftigten Kurier*innen standen vom einen auf den anderen Tag ohne Job da. Deliveroo bot Abfindungen im dreistelligen Bereich an. Die Mehrheit akzeptierte. Einige wenige jedoch, die sich in der Gewerkschaft Freie Arbeiter*innen Union (FAU) organisierten, zogen vor Gericht. Per Feststellungsklage wollten sie gerichtlich prüfen lassen, ob tatsächlich ein selbstständiges und nicht etwa ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis bestanden hatte. Dann nämlich hätte Deliveroo nicht nur Sozial- und Krankenversicherungsbeiträge sowie Steuern nachzahlen müssen. Unter Umständen wäre auch geprüft worden, ob die Kurier*innen den gesetzlich festgelegten Mindestlohn verdient hatten.
Zu einem Urteil kam es am Ende jedoch nicht. Gegen Abfindungen zwischen 3000 und 8000 Euro traten die Kurier*innen von ihren Klagen zurück. In den folgenden Jahren stellten die Lieferdienste ihre Beschäftigten in der Regel direkt an. In mehreren europäischen Ländern wurde gerichtlich festgestellt, dass die Kurier*innen tatsächlich abhängige Arbeitnehmer*innen sind. In Frankreich wurde Deliveroo 2022 wegen betrugsmäßiger Scheinselbständigkeit zu 375 000 Euro Strafe verurteilt.
Aus Berlin sind mittlerweile nicht nur die türkisen Rucksäcke verschwunden, auch die pinken Isoliertaschen vom damaligen Hauptkonkurrenten Foodoora sind Geschichte. Heute prägen die Farben Orange (Lieferando) und Blau (Wolt) das Stadtbild – und das leuchtende Grün von Uber Eats, der Delivery-Tochter des Fahrdienstvermittlers Uber. Nach Informationen von »nd« ist ein Großteil der Uber Eats-Kurier*innen als Selbstständige beschäftigt. Erneut steht der Verdacht der Scheinselbstständigkeit und des Verstoßes gegen das Mindestlohngesetz im Raum.
Die Uber Eats-Kurier*innen sind nicht direkt bei Uber Eats beschäftigt, sondern bei Subunternehmen, sogenannten Fleetpartnern, von denen sich Uber Eats seine Flotte, also seine Arbeitskräfte einkauft. »Uber Eats arbeitet in Deutschland ausschließlich mit Lieferservicepartnern zusammen, bei denen die Kuriere angestellt sind«, erklärt ein Unternehmenssprecher. Die Subunternehmen seien für ihre Mitarbeiter*innen, für die Bereitstellung von Ausrüstung, Zahlungsbedingungen und Schichten selbst verantwortlich. »Unsere Geschäftspartner verpflichten sich auch vertraglich uns gegenüber, sich an die geltenden Gesetze zuhalten«, teilt Uber Eats mit. Dazu gehöre auch die Einhaltung des Mindestlohns.
Es ist schwierig, mit Kurier*innen von Uber Eats ins Gespräch zu kommen. Oftmals sind sie in Eile, sprechen weder Deutsch noch Englisch, haben keine genaue Kenntnis von ihren Arbeitsbedingungen oder schlicht Angst. Schilderungen von ehemaligen Uber Eats-Kurier*innen ziehen das von Uber Eats skizzierte Bild jedoch in Zweifel.
Adrián Rosario* hat bis vor kurzem für Uber Eats gearbeitet. Bis er auf einmal keinen Zugang mehr zu der Uber-Eats-App hatte. Die muss er aufrufen, um Bestellungen aufnehmen zu können. Rosario hat schon für etliche Lieferdienste in Berlin gearbeitet. Er habe versucht zu erfahren, warum er von der App ausgesperrt wurde, sagt Rosario im Gespräch mit »nd«. Durch etliche Chats habe er sich geklickt, ohne eine zufriedenstellende Antwort zu bekommen: »Du wurdest aufgrund verdächtiger Account-Nutzung blockiert. Mehr können wir dazu nicht erklären, unsere Antwort ist endgültig.« Einen persönlichen Ansprechpartner habe Rosario bei Uber Eats nicht.
Mit seinem Fleet-Manager habe er nur einmal telefoniert, als er sich über das Internet-Portal Kleinanzeigen auf ein Jobangebot beworben habe. Er habe dann die verlangten Dokumente übermittelt. Uber Eats schaltete ihn daraufhin für die App der Kuriere frei. Seitdem sei die Kommunikation stets über Whatsapp erfolgt. Sein Fleet-Manager säße auch gar nicht in Berlin.
Dass der Fleet-Partner seine Kuriere als Selbstständige beschäftigt, ist offensichtlich: Vor Beginn des Arbeitsverhältnisses verlangt er eine Gewerbeanmeldung und eine unterschriebene Dienstvereinbarung. »Vergessen Sie nicht, dass Sie für die Zahlung Ihrer Steuern verantwortlich sind«, wird Rosario auf den wöchentlich übermittelten »Gutschriften« erinnert, die »nd« vorliegen.
Noch etwas wird auf der Gutschrift ausgewiesen: Ob Rosario die von Uber Eats geforderten Bestellannahmequote von 95 Prozent eingehalten hat und ob die Auftragsstornierungsrate unter fünf Prozent lag. Entscheidend für die Feststellung von Scheinselbstständigkeit, also der eigentlichen Arbeitnehmereigenschaft, ist die Frage, inwiefern die Arbeiter*innen in den Betrieb eingegliedert sind. Rosario konnte zwar stets selbst entscheiden, wann er arbeiten wollte und im Grunde auch wie viel, doch sobald er sich in die App einloggte, wurde er dazu angehalten, jede Bestellung anzunehmen: »Wir wurden anhand unserer Annahmerate beurteilt. Wenn wir zu viele Bestellungen ablehnten oder abbrachen, wurden wir sanktioniert oder aus dem System verbannt. Das zwingt dich dazu, quasi jede Bestellung anzunehmen.«
Die Bezahlung erfolgt pro Bestellung. Einen Teilbetrag erhält man für die Annahme eines Auftrags, einen Teilbetrag für die Auslieferung und einen Teilbetrag je nach Distanz, dabei zählt die von der App berechnete kürzeste Strecke.
»Alle Regeln kommen von Uber Eats«, sagt Rosario. »Es gibt keine Verhandlungsgespräche, in denen du deine Bedingungen erklärst und gegebenenfalls die Preise erhöhst. Entweder du akzeptierst die Bedingungen oder du lässt es.« Auch der Flottenpartner habe im Prinzip nichts zu sagen, sagt Rosario: »Sie rekrutieren und betreuen die Arbeitskräfte für Uber Eats.«
Gezahlt wurde wöchentlich. Der Flottenpartner behielt zehn Prozent Kommission ein. Zu Beginn, im Winter, habe Rosario mehr gearbeitet. Später sei dann das Bestellaufkommen jahreszeitbedingt gesunken. Er habe Uber Eats dann als Nebenjob zu seiner hauptberuflichen Selbstständigkeit begriffen, mit dem Ziel, jede Woche etwa 200 Euro nach Abzug der Kommission zu verdienen. Er sei dafür zwei bis vier Stunden an den Abenden gefahren, habe damit 30 bis 40 Euro am Tag verdient. Krankenkasse, Krankheits- und Urlaubsausfall sowie Arbeitsmittel sind da nicht inbegriffen. Von der 19-prozentigen Umsatzsteuer sollten die meisten Kurier*innen befreit sein. Sie entfällt, sofern der Gesamtjahresumsatz eines Selbstständigen 22 000 Euro unterschreitet.
»Die Spur endet häufig an einem einsamen Briefkasten.«
Martin Bechert Arbeitsrechtsanwalt
Der Verdienst sei abhängig vom Bestellaufkommen. »Manchmal gibt es nichts zu tun, du spielst auf dem Handy und wartest auf die nächste Bestellung«, sagt Rosario. Die Bedingungen seien auch für die wenigen Angestellten, die er kennengelernt habe, die gleichen gewesen. Mit dem Effekt, dass Uber Eats keinen Mindestlohn garantieren könne, da eben auch der Stundenlohn von der Anzahl der gelieferten Bestellungen abhänge.
Eine weitere ehemalige Kurierin, die bis vor einem Jahr ebenfalls selbstständig über einen Flottenpartner für Uber Eats gearbeitet hatte, bestätigt »nd« die Aussagen von Rosario. Sie habe gar 20 Prozent Kommission an den Flottenpartner abgeben müssen, andere Kolleg*innen bis zu 30 Prozent. Dass jemand ein Anstellungsverhältnis bei einem Flottenpartner hätte, habe sie nur mal gehört.
Der Zoll teilt auf »nd«-Anfrage mit, dass in den vergangenen Wochen keine Prüfmaßnahmen in der Branche erfolgt seien. Allerdings seien Anfang des Jahres zehn Flottenpartner insbesondere von Uber Eats einer Geschäftsunterlagenprüfung unterzogen worden. »Bei jedem Arbeitgeber wurde eine einstellige Anzahl Arbeitnehmer stichprobenweise bezüglich ihres Beschäftigungsverhältnisses überprüft«, erklärt ein Sprecher. Offen blieb, ob Bürobeschäftigte oder Kurier*innen überprüft wurden. Beanstandungen wurden keine festgestellt. Uber Eats sei wegen des großen Auftragsvolumens und des Bekanntheitsgrades in den Blick der Behörde geraten, so der Sprecher.
Das senatsgeförderte Beratungszentrum für Migration und gute Arbeit (Bema) habe nur wenig Kontakt zu Uber Eats-Beschäftigten, erklärt Beraterin Monika Fijarczyk. Nach Informationen von Bema seien mehrheitlich Selbständige zu »besonders prekären Beschäftigunsgbedingungen« für Uber Eats tätig. In einem Fall habe ein Ratsuchender »keine Papiere bekommen und ihm war sein Beschäftigungsstatus nicht bekannt«, erinnert sich Fijarczyk.
Rechtsanwalt Martin Bechert vertritt seit Jahren Kurier*innen in arbeitsrechtlichen Fragen, zuletzt insbesondere Beschäftigte des Uber Eats-Konkurrenten Wolt. Wolt beschäftigt nach dem Vorbild von Uber Eats immer mehr Kurier*innen über Subunternehmen, allerdings als Arbeitnehmer*innen und nicht als Selbstständige.
Das Mutterunternehmen sei auf den Rechtsweg gut vorbereitet, investiere viel Geld in die anwaltliche Vertretung. Das sei ein ungleicher Kampf. Die Subunternehmen seien hingegen schwer zu greifen, ihre Firmen kurzlebige Hüllen, deren Geschäftsführung mitunter schnell ausgetauscht werde. »Die Spur endet häufig an einem einsamen Briefkasten«, sagt Bechert. »Wer weiß, ob und von wem der geleert wird.« Bechert spricht von einem »kriminogenen Sumpf«, der sich in den letzten Jahren in der Branche herausgebildet habe und der darauf ausgelegt sei, Gesetze zu umgehen. Die Unwissenheit und die unsicheren Lebensverhältnisse der Arbeiter*innen würden dabei ausgenutzt.
»Da klagt niemand«, sagt Bechert mit Blick auf eine mögliche rechtliche Prüfung von Scheinselbstständigkeit bei Uber Eats. In einem Fall von ausstehenden Löhnen bei Wolt hätten sich 200 Kurier*innen gemeldet, »nur drei haben letztendlich Klage eingereicht«, sagt der Anwalt. Besser sei es, die Rentenversicherung auf mögliche Verstöße aufmerksam zu machen. Denn die habe ein Eigeninteresse, sich gegebenenfalls vorenthaltene Beiträge zu beschaffen. Für die Feststellung von Mindestlohnverstößen sei der Zoll zuständig. Bechert sagt jedoch: »Mein Eindruck ist, dass niemand aussagt.«
Ex-Uber Eats-Kurier Rosario will sich noch überlegen, ob er gegen seinen ehemaligen Auftraggeber vorgehen will. Er ist schon lange im Geschäft. Die Erfolge seiner Kolleg*innen gegen Deliveroo vor fünf Jahren hat er noch in Erinnerung behalten.
Sämtliche Anfragen von »nd« an Flottenpartner von Uber Eats blieben unbeantwortet.
*Name redaktionell geändert
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