Frontex soll keine Geflüchteten mehr verraten

Anwälte gehen gegen die Weitergabe von Positionsdaten an Libyen vor

Die Daten aus der Überwachung im Mittelmeer werden bei Frontex in Warschau ausgewertet.
Die Daten aus der Überwachung im Mittelmeer werden bei Frontex in Warschau ausgewertet.

Die Zahl der Überfahrten von Schutz- und Asylsuchenden über das Mittelmeer nach Europa geht drastisch zurück, bestätigte Frontex vorvergangene Woche. Als Ursache nannte die Grenzagentur Aktivitäten von Behörden in Tunesien und Libyen. In beiden Ländern hat die EU-Kommission die Ausrüstung der Küstenwachen finanziert und auf die Einrichtung eigener Such- und Rettungszonen (SAR-Zonen) gedrängt.

Ziel dieser Kooperation, die dreistellige Millionensummen verschlingt, ist es, Boote vor dem Erreichen europäischer Gewässer abzufangen. Frontex unterstützt dies mit Luftaufklärung durch Flugzeuge und Drohnen. Dabei werden auch Koordinaten von Booten, die nicht in Not geraten sind, an nordafrikanische Küstenwachen weitergegeben. So sollen die Insassen daran gehindert werden, die Seenotrettungszone oder die Hoheitsgewässer eines EU-Mitgliedstaates zu erreichen, um dort Asyl zu beantragen.

Diesen Vorwurf erheben Anwälte der Organisation Front-LEX, die dazu am 29. Mai mit einem aus dem Sudan stammenden Mitglied der Organisation Refugees in Libya eine Eingabe an Frontex gerichtet haben. Darin fordert der Kläger den neuen Frontex-Direktor Hans Leijtens zur Einstellung der fragwürdigen Kooperation auf und stützt dies auf Artikel 265 im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Mit einer »Vorläufigen Maßnahme« kann verlangt werden zu überprüfen, ob eine Institution der EU sich an ihre Pflichten hält.

Die Weitergabe von Positionsdaten an libysche Akteure sei ein Verstoß gegen das Prinzip der Nichtzurückweisung und trage zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit bei, so die Anwälte. In Libyen werden viele abgefangene Bootsinsassen misshandelt, gefoltert oder getötet.

Frontex reagierte ablehnend auf die Aufforderung zur Überprüfung. Ein Sprecher nannte sie »unverantwortlich und rücksichtslos« und sprach von »Publicity«. Frontex betonte, man kommuniziere mit der libyschen Rettungsleitstelle nur, wenn sich ein Boot in Seenot befinde. Dies sei gängige Praxis, auch bei zivilen Organisationen.

Jedoch hat Frontex keine eigenen Kriterien, um zu prüfen, ob Boote tatsächlich in Seenot sind. Besonders in Gebieten weitab von europäischen Seenotrettungszonen würden die Frontex-Piloten alle Positionsdaten an nordafrikanische Küstenwachen weiterleiten, so Front-LEX und Refugees in Libya. Frontex nehme in diesem »Grenzvorgebiet« keinen Kontakt zu den Flüchtlingsbooten auf, um eine Notlage zu klären.

Anders sei dies, wenn Boote innerhalb der SAR-Zone oder der Hoheitsgewässer eines EU-Mitgliedstaates entdeckt werden. Wenn Frontex diese nicht als Notfall einstuft, müssen die Küstenwachen keine Rettungsaktionen durchführen. So kam es etwa beim Schiffsunglück vor Pylos in Griechenland zu einem Desaster: Trotz Kenntnis der Überfüllung und fehlender Rettungswesten sendete Frontex kein Notsignal an alle in der Nähe befindlichen Schiffe. Womöglich deshalb ertranken mindestens 500 Menschen. Die Europäische Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly attestierte Frontex in einer anschließenden Untersuchung Mängel bei der Reaktion auf maritime Notfälle.

»Den Opfern von Verbrechen gegen die Menschlichkeit die Schuld dafür zu geben, dass sie buchstäblich versuchen, ihr Leben durch rechtliche Schritte zu schützen, stellt eine neue Stufe des Zynismus dar.«

David Yambio
Mitbegründer von Refugees in Libya

2022 kritisierte Front-LEX bereits das Vorgehen von Frontex in der Ägäis und forderte den Stopp der Zusammenarbeit mit der griechischen Küstenwache. Internationale Medien belegten damals, wie Frontex bei Pushbacks in die Türkei mithalf – eine Praxis, die offenbar anhält. Die damalige Interimsdirektorin Aija Kalnaja bezeichnete solche Aktionen jedoch als Einzelfälle.

Der amtierende Frontex-Direktor Leijtens scheint die neuen Vorwürfe aussitzen zu wollen. Auf eine Eingabe gemäß Artikel 265 AEUV muss innerhalb von zwei Monaten reagiert werden, aber diese Frist ließ Leijtens verstreichen. Zu den Gründen will sich sein Sprecher nicht äußern. »Ich kann Ihnen leider keine Auskunft über einzelne Aspekte unserer rechtlichen Strategien und internen Überlegungen geben«, hieß auf eine Anfrage des »nd«.

Refugees in Libya bereitet nun eine Untätigkeitsklage beim EU-Gerichtshof vor, bestätigte Mitbegründer David Yambio. Die Vorwürfe aus Warschau nennt er »erschütternd«. Frontex gefährde das Leben von Geflüchteten, wenn diese an libysche Milizen ausgeliefert würden. »Den Opfern von Verbrechen gegen die Menschlichkeit die Schuld dafür zu geben, dass sie buchstäblich versuchen, ihr Leben durch rechtliche Schritte zu schützen, stellt eine neue Stufe des Zynismus dar, selbst für Frontex«, sagt Yambio gegenüber »nd«.

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