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Berlin: Trickst Günther-Wünsch beim Lehrerdefizit?
Vor Schuljahresbeginn: Opposition zweifelt an Zahlen der Bildungsverwaltung
Wenn von »Herausforderungen« im Berliner Schulsystem die Rede ist, weiß Philipp Lorenz genau, was gemeint ist. Er ist Schulleiter der Wedding-Grundschule unweit vom Leopoldplatz. Etwa 80 Prozent seiner Schüler haben einen Berlin-Pass – ihre Eltern beziehen also Sozialleistungen oder verdienen so wenig, dass sie bestimmte Vergünstigungen in Anspruch nehmen können. Die große Mehrheit der Schüler an seiner Schule kommt aus Haushalten, in denen nicht primär Deutsch gesprochen wird.
Dass Berliner Schüler bei Vergleichstests immer wieder schlecht abschneiden, wundert ihn nicht. »Ich war eher von der Überraschung überrascht«, sagt er über die Reaktionen auf die im Juli bekannt gewordenen Ergebnisse des Vera-Vergleichstests, die Berliner Schülern einen neuen Leistungstiefstand attestierten. Jetzt würden die Folgen der Corona-Pandemie im Bildungssystem deutlich. »Wir haben Aufholbedarf auf allen Ebenen«, so Lorenz.
An der Wedding-Schule zeigt sich im Kleinen, was für viele Berliner Schulen gilt. Zur schwierigen sozialen Lage kommt ein noch größeres Problem hinzu: Überfüllung. »Berliner Schulen sind überlaufen«, sagt Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch, die am Mittwoch bei einer Pressekonferenz neben Lorenz sitzt und einen Ausblick auf das neue Schuljahr gibt, das am Montag beginnt. Mit mehr als 400 000 Schülern sei eine neue »Rekordzahl« erreicht. Zu diesem Rekordwert kommen noch etwa 70 000 Schüler an Berufsschulen und 12 000 Geflüchtete in Willkommensklassen.
Zuletzt hatte die Schülerzahl vor 25 Jahren so hoch gelegen – damals gab es allerdings noch deutlich mehr Schulen und Lehrkräfte. Als die Schülerzahlen daraufhin zeitweise sanken, ließ der Senat leer stehende Schulgebäude abreißen und vernachlässigte die Ausbildung von Lehrkräften an Universitäten. Ein Fehler, wie sich nun zeigt. Mit einer Schulbauoffensive haben seit 2016 verschiedene Landesregierungen versucht, der Entwicklung entgegenzuwirken.
»Wir sind am Beginn einer Trendwende«, prophezeit Günther-Wünsch nun. 12 000 neue Schulplätze seien im Rahmen der Schulbauoffensive bereits geschaffen worden. »Wir sind jetzt in der Lage, schnell neue Schulen zu bauen«, so die Senatorin.
Ein Defizit von 27 000 Schulplätzen bleibe aber. Auch die Schulbauoffensive, für die der Senat im laufenden Haushalt 2,2 Milliarden Euro eingeplant hat, bleibe damit weiter notwendig. Zuletzt war sie im Rahmen der anhaltenden Berliner Haushaltskrise in die Diskussion geraten. »Berlin kann es sich nicht leisten, auf nur einen Schulplatz zu verzichten«, sagt Günther-Wünsch dazu. Sie könne sich aber vorstellen, über bauliche Standards zu diskutieren. »Wir können darüber reden, wie wir bauen, aber nicht wie viel wir bauen«, sagt sie. Teilungsräume und andere bauliche Maßnahmen, die die Inklusion unterstützen sollen, dürften allerdings nicht unter den Sparhammer kommen.
Auch beim Defizit von Lehrkräften sieht sich Günther-Wünsch einer Trendwende nahe. Wie viele andere Bundesländer kämpft Berlin seit Jahren mit einem doppelten Problem: Während immer mehr Lehrer in Pension gehen oder ihren Job kündigen, kommen zu wenig Nachwuchskräfte von den Universitäten. »Die Personalsituation bleibt schwierig«, gibt Günther-Wünsch zu, nun griffen aber Maßnahmen, die der Senat im vergangenen Jahr beschlossen habe. Die vom rot-grün-roten Vorgängersenat eher zaghaft angegangene Verbeamtung sei nun entschieden beschleunigt worden, immer mehr Referendare würden sich dafür entscheiden, dauerhaft in Berlin zu bleiben.
Insgesamt etwa 3000 Lehrkräfte seien im vergangenen Jahr neu eingestellt worden. Nur eine Minderheit von 1270 sind allerdings voll ausgebildete Lehrkräfte. Weitere 400 sind Quereinsteiger, haben also nach einer ursprünglich anderen Berufsbahn Lehramt nachstudiert und das Staatsexamen abgelegt. Der Rest verteilt sich auf Seiteneinsteiger, die weder ein Lehramtsstudium absolviert noch ein Schulfach studiert haben, und Ein-Fach-Lehrer. Letztere sollen nach Günther-Wünschs Plänen besser an den Schulen integriert werden. Bis 2025 soll ein »qualifizierter Einstieg« in den Beruf für sie möglich werden.
»Wir sind am Beginn einer Trendwende.«
Katharina Günther-Wünsch (CDU)
Bildungssenatorin
Vergleicht man die Zahlen von Schülern und Lehrern, bleibt weiter eine große Lücke. »695 Lehrkräfte fehlen«, so die Senatorin. Diese Zahl sei allerdings noch nicht final, weil der Bildungsverwaltung eine Übersicht über die Neueinstellungen fehle. Vor einem Jahr sprach sie noch von 1500 fehlenden Lehrkräften.
Die Opposition zweifelt indes an dem plötzlichen Umschwung. »Die Lehrkraftlücke wird künstlich niedrig gerechnet«, kritisiert Franziska Brychcy, bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, in einer Pressemitteilung. Die Bildungsverwaltung hatte vor den Sommerferien angekündigt, dem Profilbereich II, unter den Förder- und Wahlpflichtangebote fallen, weniger Stunden zuzumessen. Stattdessen soll die Stundentafel priorisiert werden. Gleichzeitig sollen Referendare nun zehn statt sieben Stunden unterrichten.
Allein durch diese Umschichtungen sind etwa 400 Lehrkräfte aus der Berechnung gefallen. Die Maßnahmen sollen allerdings nur temporär sein. Laufen sie aus, würde sich das Defizit also wieder erhöhen. »Tatsächlich fehlen in Berlin 1500 Vollzeitlehrkräfte und nicht bloß 690, wie von der Bildungssenatorin behauptet«, so Brychcy.
»Wir haben der Realität an den Schulen Rechnung getragen«, reagiert Günther-Wünsch auf die Kritik. Der Vorgängersenat habe »schwarze Löcher« bei der Personalplanung hinterlassen.
Auf etwas Besserung dürfen zumindest einige Berliner Schulen hoffen: Mit Beginn des Schuljahres kommt das Startchancenprogramm des Bundes an die Berliner Schulen. Zunächst 59 Bildungseinrichtungen in besonders schwieriger sozialer Lage sollen von dem Förderprogramm profitieren. Sie erhalten Mittel, um Stellen für Fachbereichsleiter an Grundschulen zu etablieren. Diese sollen die Schulleitungen entlasten.
»Das Startchancenprogramm ist für uns wortwörtlich eine Riesenchance«, sagt Schulleiter Philipp Lorenz. Mit den Mitteln soll auch der sogenannte Leseband eingeführt werden. Damit sollen die Schüler täglich das Lesen üben. 15 bis 20 Minuten würden dafür in jeder fünften Stunde eingeplant, unabhängig davon, welches Fach dort unterrichtet wird, sagt Lorenz. Ein ähnlicher Band ist auch für das Rechnen geplant.
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