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Neue US-Raketen in Deutschland: Wenig Worte, weite Waffen
Ist die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen eine Gefahr für den Frieden in Deutschland?
Typisch Scholz: kurz, nüchtern, sachlich», könnte man sagen – oder war es der Versuch, eine große Sache kleinzureden? Die Vier-Sätze-Erklärung während des Nato-Gipfels im Juli, mit der die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen bekannt gegeben wurde, sorgt weiterhin für Diskussionen. Ab 2026 reichen demnach wieder Waffensysteme aus Deutschland bis nach Russland. In vielen Köpfen weckte das Erinnerungen an den Nato-Doppelbeschluss von 1979 – und die Proteste dagegen. Damals wurden mit Atomsprengköpfen bestückte Mittelstreckenraketen in fünf Nato-Staaten stationiert, darunter Deutschland.
Laut einer Umfrage des «MDR» in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sind zwei Drittel der Befragten gegen die Stationierung, aus Sorge vor einem Wettrüsten und der Gefahr, dass Deutschland zum Angriffsziel wird. Wie berechtigt sind diese Bedenken? Und welche Alternativen gibt es zur aktuellen Aufrüstungspolitik der Nato?
Fehlende Debatte und falsche Narrative
Ulrich Kühn leitet den Forschungsbereich «Rüstungskontrolle und Neue Technologien» am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Er kritisiert vor allem, dass die Stationierung ohne öffentliche Debatte beschlossen wurde. «Eine solch weitreichende Entscheidung, die die Sicherheitsinteressen Deutschlands und Europas direkt berührt, sollte im Bundestag diskutiert werden und nicht als vollendete Tatsache präsentiert werden», sagt Kühn dem «nd». Auch die Begründung – Verteidigungsminister Pistorius sprach von einer «Fähigkeitslücke» – überzeugt ihn nicht: «Es stimmt, dass Europa bisher nicht über bodengestützte Abstandswaffen in diesem Spektrum verfügt. Allerdings verfügen Nato-Staaten über luft- und seegestützte Mittelstreckenraketen, weshalb keine generelle Fähigkeitslücke besteht.»
Kühn widerspricht zudem Pistorius’ Aussage, «von Wettrüsten kann keine Rede sein»: «Das ist falsch. Es ist absehbar, dass Russland auf diese Entscheidung reagieren wird, wahrscheinlich durch die Stationierung weiterer Raketen in Kaliningrad und Belarus, eventuell sogar nuklear bestückt.» Es gebe keine Abschreckungsstrategie, die nicht mit einem Risiko einherginge. Und die Stationierung der Mittelstreckenraketen in Deutschland sei im höheren Risikobereich anzusiedeln, ergänzt Kühn. Aus diesen Gründen – und dem Umstand geschuldet, dass die Ankündigung nicht mit Bemühungen um Rüstungsdiplomatie einherging –, sagt der Konfliktforscher: «In der jetzigen Form bin ich gegen diese Entscheidung.»
Deutschland ist Angriffsziel
Frank Kuhn hat zwar einen ähnlichen Nachnamen wie Kühn, blickt aber etwas anders auf die aktuelle Situation. Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung (PRIF) findet die Aufregung über die Stationierung fehl am Platz. Aber nicht, weil Deutschland sich dadurch zu einem möglichen Angriffsziel für Russland mache, sondern: weil es das ohnehin schon ist. Denn in Wiesbaden, wo ab 2026 auch die Raketen stationiert werden sollen, befindet sich das Hauptquartier der US-Armee für den Bereich Europa und Afrika. «Es gibt viele Indizien dafür, dass dort Aufklärung aus der Ukraine zusammenläuft», so Kuhn. «Ob dort zusätzlich Raketen stationiert werden, macht keinen großen Unterschied.» Ohnehin würden aufgrund der hohen Kosten nur wenige dieser Systeme angeschafft werden und diese im Ernstfall nach Osteuropa verlegt, mutmaßt der Wissenschaftler.
Die eigentliche Gefahr sieht Kuhn nicht in den Waffensystemen, sondern in der Militärstrategie der USA und der Nato. Diese ziele darauf ab, den Gegner bereits in der Eröffnungsphase eines Konflikts entscheidend zu schlagen. Die Mittelstreckenraketen sollen etwa Kommandoeinrichtungen und Luftverteidigungssysteme ausschalten, die weit hinter der Frontlinie liegen – und so einen Luftkrieg ermöglichen. «Das Problem ist: Russland könnte sich nach der Ausschaltung seiner Verteidigungssysteme gezwungen fühlen, nuklear zu eskalieren», so Kuhn. Anstatt immer wieder Rüstungskontrollverträge einzelner Waffensysteme zu fordern, solle deshalb diese Strategie diskutiert werden, findet der Forscher.
«Es gibt keine Abschreckung ohne Risiko.»
Ulrich Kühn
Friedens- und Konfliktforscher
Alternativen gibt es: Abschreckung funktioniert nicht nur über die Androhung eines möglichst zerstörerischen Gegenschlags nach dem Motto «Angriff ist die beste Verteidigung». Auch eine vehemente Verteidigung, die dem Aggressor keine Aussicht auf Erfolg verspricht, kann abschreckend wirken. In der Friedens- und Konfliktforschung ist dabei von «defensive defense» die Rede, wörtlich übersetzt eine «verteidigende Verteidigung». Statt Mittelstreckenraketen läge der Fokus auf einer starken Verteidigungslinie und mobilen Einheiten, die die feindlichen Einheiten auf eigenem Territorium bekämpfen. Das stellt keine Bedrohung für gegnerisches Gebiet dar, weshalb die Strategie Vertrauen bildet und zu Abrüstungsgesprächen einlädt.
Angriff ist nicht die beste Verteidigung
Allerdings erfordert solch ein Vorgehen einen anderen Aufbau der Armee. «Wir würden wahrscheinlich ein System mit einer riesigen Reserve brauchen, wie etwa Finnland», meint Kuhn. «Und das muss gesellschaftlich gewollt sein, vielleicht müssten wir auch über die Wiedereinführung der Wehrpflicht reden», so der Forscher. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Nato in den nächsten Jahren ihr Einsatzkonzept ändert, betrachtet er als «sehr gering, bis nicht vorhanden».
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Rein defensive Verteidigungsstrategien lassen sich auch mit nicht-militärischer Verteidigung kombinieren, meint etwa der US-Politikwissenschaftler Matthew Evangeliste. So wurde gegen die russische Invasion auch gewaltfrei Widerstand geleistet: Ukrainer*innen blockierten russische Panzer; bauten Straßenschilder ab, um die Invasoren zu verwirren; und die ukrainische Regierung lockt russische Deserteure mit Geld und Amnestie.
Der weite Weg zur Diplomatie
Doch für viele Friedensbewegte sind militärstrategische Alternativen nicht die entscheidende Frage. Diese laute: «Wie kommen wir zur Diplomatie?», meint der ehemalige UN-Biowaffeninspekteur und Kandidat für den Linke-Vorsitz Jan van Aken. In Bezug auf Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine sei nach der Friedenskonferenz in der Schweiz im Juni Bewegung in die Sache gekommen. «Die Situation hat sich komplett verändert, denn nach seinem Besuch hat Selenskyj sich dazu bereit erklärt, mit Russland zu verhandeln», so van Aken. «Und zwar ohne Vorbedingungen zu stellen – das ist der zentrale Punkt». Auch wenn der ukrainische Kursk-Vorstoß die Wahrscheinlichkeit für Verhandlungen zunächst geschmälert habe, sei unklar, wie sich die Offensive langfristig auf diplomatische Bemühungen auswirke.
Organisationen wie die Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkriegs (Ippnw) sind überzeugt: «Zur Vermittlung würden China und weitere Staaten des globalen Südens gebraucht.» Brasilien und China haben im Mai einen Sechs-Punkte-Plan für Friedensverhandlungen verabschiedet. Darin wird unter anderem die Einberufung einer internationalen Friedenskonferenz vorgeschlagen, die von beiden Seiten anerkannt wird. «Ich sehe das als Einladung an die Länder, die Einfluss auf Kiew haben», sagt van Aken dem «nd». «Und ich finde, Deutschland, oder noch besser: die EU, sollte diese Einladung annehmen und gemeinsam zu einer internationalen Konferenz aufrufen». Doch dafür – das sollte die Bundesregierung begriffen haben – braucht es mehr als vier Sätze.
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