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Ein oberösterreichischer Mostschädel
Zum 200. Geburtstag von Anton Bruckner
Anton Bruckner ist, trotz Arnold Schönberg und Charles Ives, der komplizierteste Jubilar des Musikjahres. Ein genialer Sinfoniker? Ein sensibler Querschädel? »Halb Genie, halb Trottel«, wie der Dirigent Hans von Bülow meinte? Ein spießiger Kleinbürger mit einem beschränkten Weltbild, dessen berühmteste Melodie heutzutage jedoch in allen Fußballstadien der Welt gespielt wird? Ein Vorläufer von Mahler und Schönberg gar?
Geboren am 4. September 1824 in Ansfelden, Österreich, ist es nicht leicht, dem Phänomen Bruckner auf die Spur zu kommen. Der erste Weg führt nach St. Florian, dem gewaltigen oberösterreichischen Augustiner-Chorherrenstift nahe Linz. Es ist eine in Architektur gegossene Machtdemonstration des österreichischen Katholizismus – Gott ist groß, der Mensch sei klein. Ohne diese Rollenverteilung wird man Bruckner kaum verstehen. Dabei muss man sich die spezifisch österreichische Vermischung von Nach-Vormärz-Reaktion und Bauern-Religiosität vor Augen führen. Nach den blutig bekämpften Revolutionen 1848/49, bei denen die Habsburger auch mit Aufständen in Italien (niedergeschlagen von Feldmarschall Radetzky, dem mit dem Neujahrskonzert-Marsch) und in Ungarn (nur dank massiver russischer Militärhilfe besiegt) zu tun hatten, zwang der neue Kaiser Franz Joseph I. dem Staat ein autoritäres Regime mit einer Verfassung auf, die auf Metternichs Überwachungs- und Unterdrückungsstaat der ersten Jahrhunderthälfte fußte. Der Kaiser regierte allein im Neoabsolutismus, der Epoche eines »freigewordenen Mittelalters, von Europa ängstlich abgeschlossen«, wie Bruckner-Biograf Ernst Decsey schreibt: »Das Wort Freiheit klingt nach Hochverrat, auf allen Formen lastet Autorität.«
Österreich bedurfte williger Untertanen. Die katholische Kirche half, diese Verhältnisse »stabil«, also reaktionär zu halten. Bruckner war in gewisser Weise der geborene Untertan, der zwar unter den Verhältnissen litt, sie aber in keinster Weise verändern wollte. Als 28-Jähriger schreibt er aus dem Stift St. Florian melancholisch an einen Freund: »Ich habe hier gar keinen Menschen, dem ich mein Herz öffnen dürfte … Unser Stift behandelt Musik und folglich auch Musiker ganz gleichgültig.« Bruckner berichtet, er werde »als reiner Diener g’halt’n, der nur am Dienertisch hat essen derf‘n und den’s so schlecht wia mögli g’halt’n habn«.
Zur Einsamkeit hinzu kam permanente Erniedrigung, ja Unterdrückung, etwa durch seinen Vorgesetzten, einen Prälaten. Als er von Bruckners Versuch, sich auf eine Organistenstelle in Olmütz wegzubewerben, erfuhr, ließ er den bereits renommierten Musiker vor sich niederknien und sich von ihm die Schuhe ausziehen. Natürlich wird der Komponist grundsätzlich geduzt, der aber die Kirchenoberen wie die Adeligen zu siezen hat. Bruckner erlebte die »dumpfe Moderluft des Stifts« (Georg Knepler) und des österreichischen Macht-Katholizismus. Selbst sein großer Konkurrent Johannes Brahms äußerte Verständnis, wenn nicht sogar eine Spur Mitleid: »Bruckner ist ein armer verrückter Mensch, den die Pfaffen von St. Florian auf dem Gewissen haben.«
Dennoch blieb Bruckner zeitlebens bedingungslos begeistert von diesem Katholizismus. Das reaktionär-konservative Milieu aus autoritärem Kaisertum und Katholizismus bestimmte die geistige Haltung des Komponisten. Eine Emanzipation fand bei ihm nie statt. Ganz im Gegenteil: Er war ein geradezu besessener Katholik und eifriger Beter des Rosenkranzes. Die Zahl der von ihm täglich gesprochenen Gebete trug Bruckner akribisch in seinen Kalender ein. »Unter Tausenden hat mich Gott begnadet und mir, gerade mir, das Talent gegeben«, schrieb er an den Probst von Stift Klosterneuburg. Und so widmete er seine letzte, die 9. Sinfonie »dem lieben Gott«, nachdem er seine 7. König Ludwig II. von Bayern und seine 8. Kaiser Franz Joseph gewidmet hatte – höher ging’s nimmer.
Bruckner kam als erstes von elf Kindern eines Dorfschullehrers zur Welt, der selbst Spross einer Bauernfamilie war. Seine Mutter war eine gläubige und strenge Frau, der Vater eher unbeschwert und heiter, Geselligkeit und Musik waren ihm wichtig. Bruckner-Experte Klaus Petermayr findet es in einer biografischen Skizze »erstaunlich, wie oft in seinen Schilderungen der Jugendzeit körperliche Bestrafung und Gewalt ein Thema ist«. Mit elf Jahren wurde Anton in die Obhut eines Onkels gegeben, mit 13 Jahren, nach dem frühen Tod seines Vaters, kam er für vier Jahre als Schüler und Sängerknabe nach St. Florian.
1841 bis 1845 war er Schulgehilfe in kleinen oberösterreichischen Dörfern, wo Kirchendienst und landwirtschaftliche Arbeit, aber auch das Aufspielen zum Tanz zu seinen karg bezahlten Aufgaben gehörten. Von 1845 bis 1855 arbeitete und lebte Bruckner dann wieder im Stift St. Florian, zunächst als Lehrer, seit 1848 als Organist. Obwohl er als Orgelvirtuose europaweit bekannt war, die Orgel der Stiftsbasilika wird heutzutage »Brucknerorgel« genannt, hat Bruckner nur wenige Kompositionen für die Orgel hinterlassen. Wohl aber kann seine Sinfonik als orgelhaft geprägt bezeichnet werden. In der Kirchenmusik wurzelnd, ist sie voller Choräle und zum Teil gewaltiger Fugen. Vor allem für die Finalsätze seiner Sinfonien sind die ernsten und feierlichen Choräle charakteristisch, seine Lösungen sind »von Vorstellungen dominiert, die eng mit den Dogmen der katholischen Kirche verbunden sind«, wie Georg Knepler einmal formuliert hat.
Bruckner bezeichnete sich selbst als »oberösterreichischen Mostschädel«. Er war Ländlergeiger bei Dorffestivitäten, wohl ein veritabler Tänzer, ein guter Schwimmer und Eisstockschütze. Der in Biografien als nur »eingeschränkt gesellschaftstauglich« bezeichnete Komponist war Stammtisch- und Kaffeehaussitzer mit Vorliebe für Linzer Torte, »trank Kaffee wie andere das Wasser, verschlang gigantische Portionen, schnupfte Tabak am laufenden Band« und »ließ sich abends mit bis zu 13 kleinen Bieren volllaufen«, schreibt Florian Sedmak. Ein Mann des Volkes, gewissermaßen. Und so ist es kein Zufall, dass Bruckner gerade in seinen kraftvollen Scherzi eben dieses Volk, »die einfachen Leute«, das bäuerliche Milieu, aus dem er stammt, bei Tanz und Spiel zu Wort kommen lässt, am schönsten vielleicht im Scherzo der 4. Sinfonie, der »Romantischen«, in dem er ein bekanntes Jagdmotiv in grüblerisch versponnene Sphären führt. In den späteren Sinfonien werden Bruckners Scherzi zunehmend Schauplatz düsterer, unheimlicher Vorgänge, als Vorboten der wilden Scherzi Mahlerscher Sinfonien.
Schubert ist vermutlich ein wesentlicher Bezugspunkt Bruckners, sicher was seine Melodik angeht, durchaus aber auch die Harmonien betreffend. Bekanntlich nahm Schubert in seinen letzten Wochen 1828 noch Kontrapunktunterricht beim Musiktheoretiker und damaligen Wiener Hoforganisten Simon Sechter, der später zum Professor für Komposition ernannt wurde, dann auch der langjährige Kompositionslehrer Bruckners war, mit durchaus eigenwilligen Lehrmethoden: So verbot er Bruckner, während des Kontrapunktstudiums Originalkompositionen zu schreiben. Der Komponist und Bruckner-Kenner Robert Simpson vertritt die These, dass »Sechter unbewusst Bruckners Originalität hervorholte, indem er sie unterdrückte, bis es nicht mehr länger ging«.
Nach 13 Jahren als Linzer Domorganist und acht Jahren als Leiter des Männerchorvereins »Liedertafel Frohsinn« zog Bruckner 1868 endlich nach Wien, wo er die Musiktheorie-Professur seines verstorbenen Lehrers Sechter übernahm und bis zu seinem Tod 1896 lebte.
In der Musikhauptstadt war er als Komponist weitgehend erfolglos. Er geriet eher ungewollt in den recht brachial ausgetragenen Konflikt zwischen Brahms-Treuen, also der überwältigenden Mehrheit der Wiener Musikszene und Musikkritik, und Wagnerianern, wobei er Letzteren zugerechnet wurde, obwohl seine Musik trotz einzelner Passagen alles andere als wagnerianisch ist.
Wien war für Bruckner ein »verhasster Sehnsuchtsort«, eine Biedermeierstadt im Neuentstehen mit einem für die damalige Zeit erstaunlichen Vielvölkergemisch und gleichzeitig eine riesige Baustelle, auch im geistigen und politischen Sinn. Zu Bruckners Lebzeiten formierten sich dort Vorläuferorganisationen der Massenparteien von Sozialdemokratie und Christlichsozialen. Die Schere zwischen Arm und Reich weitete sich. Es gab etliche progressive Ideen und gleichzeitig zahllose Menschen, die sich diesen »Moden« verwehrten und darauf beharrten, von gestern zu sein. Zu diesen gehörte auch Anton Bruckner, dem der Kaiser von Österreich die höchste Majestät war.
Die Schönberg-Schülerin Dika Newlin zog 1947 in ihrer Studie »Bruckner - Mahler - Schönberg«, eine Linie von Bruckner zur Wiener Schule des 20. Jahrhunderts. Für sie war der Komponist »eine seltsame Barockgestalt«. Einerseits ein autoritätsfixierter Sozialaufsteiger, der sich andererseits dem Habitus von Adligen, Industriellen, Unternehmern, aber auch Intellektuellen verweigerte. Er schätzte einfache Vergnügungen wie Essen und Trinken und war dem Tanzboden zugeneigt. Über die Namen seiner Tanzpartnerinnen führte er ebenso Buch wie über die Zahl seiner täglichen Gebete. Bruckner machte jungen Frauen quasi wahllos Heiratsanträge, die ausnahmslos abgelehnt wurden. »So zahlreich die überlieferten Initiativen waren, so verborgen bleiben seine Motive. Einmal scheint sich Bruckner eine tüchtige Hausfrau gewünscht zu haben, ein anderes Mal eine junge Schönheit und dann wieder eine gute Partie mit großer Mitgift« (Friedrich Buchmayr).
Mit all seinen Obsessionen und Zwangsneurosen war Bruckner der geborene Untertan. Ein idealtypischer Kleinbürger, der aber große, teils gigantische Werke schuf und in seiner Musik ein wagemutiger Abenteurer war. Wie passt das zusammen? Ich denke an Bruckners Zeitgenossen Karl May, und zwar an den Außenseiter, den Erich Loest in seinem wunderbaren Roman beschrieben hat: ein Dieb, Betrüger und Hochstapler, dem ein bürgerliches Leben nicht gelingen wollte. Doch wenn er sich dem Schreiben widmet und sich seine ausufernden Geschichten ausdenkt, dann beamt sich dieser Karl May in eine andere Welt - in der er sich zurechtfindet und letztlich sogar erfolgreich reüssiert.
Was für May laut Loest »Swallow, mein wackerer Mustang« ist, das Pferd, das Old Shatterhand von Winnetou geschenkt wurde, sind für Bruckner die Sinfonien. In diesen Werken baut er eigene Welten, imposant wie Kathedralen, mit denen sie oft verglichen wurden. In ihnen kann sich der verklemmte Kleinbürger ohne Weiteres zurechtfinden und zum Großmeister, zum Magister Ludi mutieren.
Was ist das Besondere an dieser Sinfonik? Zuvorderst die Maßlosigkeit, nicht nur was deren ungewöhnliche Länge angeht - häufig sind es immense Brocken, die der Komponist übereinanderstapelt, gigantische, dröhnende Steigerungswellen, »überall colossale Anläufe«, wie Komponistenkollege Hugo Wolf über Bruckners 3., Richard Wagner gewidmete Sinfonie in d-Moll urteilte, nicht ohne vergiftet hinzuzufügen: »aber keine Befriedigung, keine künstlerische Lösung. Der Mangel an Intelligenz, das ist es, was uns die Bruckner'schen Sinfonien so schwer verständlich macht.«
Verstörend wirkt für viele, dass Bruckner hinter die bekannten kompositorischen Lösungen seiner Vorgänger zurückfiel. Auch Beethoven versuchte, die Konflikte (und das heißt nicht zuletzt auch die zwischen Konservativismus und Fortschritt) einer Lösung zuzuführen. Doch während Beethovens Lösung »Freiheit« und »Revolution« (»Eroica«, Fünfte Sinfonie) oder doch zumindest »Alle Menschen werden Brüder« lautet, nimmt Bruckner nach seinen kolossalen Anläufen alles wieder zurück. Es gab nach der Aufführung von Bruckner-Sinfonien, anders als bei Beethoven, keine Zuhörenden, die in Freiheitsrufe ausbrachen, und es wird keine Zuhörenden geben, die sich glücklich in den Armen liegen. Sie werden höchstens erschöpft sein, bei guten Aufführungen aber definitiv auf angenehme und anregende Weise erschöpft.
Bruckner spricht selbst an einer Stelle von »Kleinmut und Verwirrung«. Er zielte auf »Verklärung«, wie er in Bezug auf das Finale seiner Achten sagte. »Bei Beethoven wird das Menschenleid durch Kampf überwunden. Bruckners Lösung besteht darin, dass Menschenleid durch Gottesglauben verklärt wird«, urteilt Georg Knepler. Andererseits hat Ernst Bloch in »Vom Geist der Utopie« angemerkt, dass mit Bruckner »endlich wieder Gesang in die Welt gekommen« sei, und »ein gutes Gewissen dazu. Was wir an ihm lieben, das ist seine Wärme, Wohligkeit und die ganze verloren gewesene Freude am Unterwegs.«
Vielleicht ist dies das Geheimnis des ewig »Unzeitgemäßen«, das ihn für uns Heutige, die wir eine Bruckner-Renaissance erleben, so interessant macht: dass Bruckner eben keine Lösungen parat hat.
Sein Werk ist eine Art Rhizom, ein Sammelsurium, ein Wurzelgeflecht unterschiedlichster Möglichkeiten, die scheinbar zusammenhanglos nebeneinanderstehen. Lässt man seine merkwürdige konservative Religiosität beiseite, dann lassen diese Werke alles offen. Zweifelsohne verfügen sie über große Kühnheit, über eine an die Grenzen der Tonalität gehende Harmonik, häufig auch Polyrhythmik, doch Bruckner entwickelt dies nicht zu einem großen Finale, sondern lässt die unterschiedlichen Blöcke einfach in aller Schroffheit nebeneinander stehen oder mäandern.
Knepler spricht von drei Blöcken, die sich in Bruckners Sinfonik, besonders aber in seinen Finalsätzen gegenüberstehen: »zweiflerisch-suchende Erregtheit - schmerzlich-liebevolle Wehmut - kräftig-männliche Entschlossenheit (Gottesglaube)«. Große Höhepunkte, denen mal ein plötzliches, dann wieder ein allmähliches Ermatten folgt, das die Menschen heute, im Zeitalter der Erschöpfung, nur zu gut kennen. Ewige Suchbewegungen, die Dokumentation eigener Krisen, Abgründe ebenso wie utopische, traumschöne Inseln.
Zu diesen erschöpfenden Höhepunkten gehören die typisch Bruckner'schen Leerstellen: »In ihnen passiert nichts mehr, aber dem Hörer wird, nach der Anstrengung des Zuhörens, Zeit gegeben, damit er Abstand gewinnen kann, ehe ihm dann wieder etwas Dichtes präsentiert wird«, so der Musikwissenschaftler und Dirigent Peter Gülke. Der weise alte Mann und das sinfonische Meer. Nach all den Tönen kommt er mit großer Leere zurück ans Ufer - aber wie Hemingways Fischer mit maximalem Erkenntnis- oder zumindest Erlebnisgewinn. Eine gute Bruckner-Interpretation zeichnet sich nicht nur durch Steigerungsexzesse aus, sondern auch durch den Mut zu langen Pausen, zur Stille mittendrin.
Gerne weitet der Komponist im Finale alles noch zu gigantischen Doppelfugen aus. Es geht immer noch mehr. Oft türmt sich ein immenser sinfonischer Lärm, ein abenteuerliches Getöse vor uns auf, wie es sonst nur die Drones von La Monte Young oder Sun O))) können. Bruckner hat zu einer Zeit des offensichtlichen Verfalls der klassischen Sinfonie »eine hochemotionale Musik geschrieben, der Klang ist enorm sinnlich«, weiß der legendäre Dirigent Herbert Blomstedt; »wenn es erforderlich ist, kann er sich auch ganz einfach ausdrücken«.
Warum beeindrucken die Furtwängler-Aufführungen von Bruckner in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs? 2019 brachten die Berliner Philharmoniker »Radio Recordings 1939-1945«, vom Reichsrundfunk mitgeschnittene Aufführungen ihres Dirigenten Wilhelm Furtwängler heraus. Darin ist die Aufnahme von Bruckners Neunter vom Oktober 1944 aus der Alten Philharmonie enthalten, die schlicht unglaublich ist. Ihr »erschütternd abgründiger Ernst steigert sich zu einer geradezu apokalyptischen Energie«, schreibt die Musikkritikerin Julia Spinola dazu. Es ist ein Blick in den Abgrund, den die vom NS-Regime privilegierten Musiker im Kopfsatz wagen - wohl auch in ihre eigenen Abgründe. Vor allem das abschließende Adagio, Bruckners »Abschied vom Leben«, wird man sonst kaum je so intensiv hören.
Sicher spielten für diese apokalyptische Interpretation das sich im untergehenden Berlin ausbreitende »Klima aus Angst, Stumpfsinn und Resignation« eine Rolle, die Florian Huber in seiner bedrückenden Studie »Kind, versprich mir, dass du dich erschießt: Der Untergang der kleinen Leute 1945« beschreibt. Die Grundstimmung war Verzweiflung, »immer mehr Menschen machen sich mit dem Gedanken vertraut, Schluss zu machen«, stellte laut Huber ein Stimmungsbericht des Sicherheitsdienstes der SS Ende März 1945 fest. Allein im April 1945 nahmen sich in Berlin 3800 Menschen das Leben.
Eine der letzten Aufführungen der Berliner Philharmoniker vor der Befreiung vom Nationalsozialismus fand am 12. April 1945 statt. Rüstungsminister Albert Speer hatte ein Sonderprogramm organisiert: Das Orchester spielte Beethovens Violinkonzert, das Finale von Wagners »Götterdämmerung«, in dem sich die Walküre auf einem Scheiterhaufen opfert, und Bruckners Vierte Sinfonie, die »Romantische«. Nach dem Konzert verteilten uniformierte Mitglieder des Jungvolks der Hitlerjugend am Ausgang aus kleinen Körben Zyankalikapseln. Bruckner hören und sterben.
Verwendete Literatur: Anton Bruckner. Eine Biografie, hrsg. v. Alfred Weidinger u. Klaus Petermayr, Salzburg 2023; Dika Newlin: Bruckner - Mahler - Schönberg, Wien 1954; Bruckner-Handbuch, hrsg. v. Hans-Joachim Hinrichsen, Stuttgart 2010; Florian Sedmak: Dickschädels Reisen. Durch Oberösterreich mit Anton Bruckner, Salzburg 2024
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