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Mein Vermächtnis sind die Worte
Der Brasilianer José Henrique Bortoluci wandelt mit »Was von meinem Vater bleibt« auf den Spuren Didier Eribons – hat aber andere Erfahrungen gemacht
José Henrique Bortoluci hat Glück gehabt. Er ist ein »Wunderkind« und lässt die einfachen Verhältnisse seiner Eltern zurück, um im dreihundert Kilometer entfernten São Paulo Soziologie zu studieren. Das Studium beendet er mit Auszeichnung, geht mit einem Stipendium nach Ann Arbor, an die University of Michigan, und wird dort promoviert. Bortoluci ist einer dieser Bildungsaufsteiger, ein Klassenflüchtling, den vor allem Annie Ernaux und Didier Eribon zum Feuilleton-Thema gemacht haben. Und in der Tradition Eribons, also im Modus des gelehrten, zwischen Erzählung und Räsonnement changierenden Essays, blickt nun auch Bortoluci zurück auf seine Kindheit und Jugend als Arbeiterkind in Brasilien. Allerdings sind seine Erfahrungen andere. Obwohl im Landesinneren Brasiliens immer noch »Katholizismus, patriarchale Männlichkeit und lokaler politischer Machismus« regieren, erlebt Bortoluci im Gegensatz zu Eribon Liebe, Fürsorge und sogar familiären Stolz auf seinen Klassenwechsel.
Bortoluci profiliert sich also in diesem Sinne als eine Art Anti-Eribon – vor allem aber ist »Was von meinem Vater bleibt« ein warmherziges Porträt des Fernfahrers José »Didi« Bortoluci, Vater des Schriftstellers. José Henrique Bortoluci zeichnet dessen Stärken und Schwächen mit wohlwollender Empathie. Didi karrt das Baumaterial für das Mammutprojekt Transamazônica heran, die mit über 4000 Kilometern zweitlängste Straße Brasiliens, die das Land von Osten nach Westen durchquert. Er wird Zeuge der extensiven Abholzung des Regenwaldes, die ihn aber nicht weiter schert. Seine Sorge gilt der Subsistenz seiner Familie. Ständig verpasst er Geburtstage, Feste, sogar Weihnachten. Er ist nur ein paar Tage daheim, dann macht er sich erneut für anderthalb Monate auf den Weg, weil mal wieder ein Kredit abzuzahlen ist. Alle in der Familie leiden darunter. »Als ich fünf Jahre war, brachte mir mein Vater von einer seiner Reisen ein kleines Plastikpferd mit«, erinnert sich Bortoluci. »Bevor er wieder aufbrach, versteckte ich das Spielzeug in seiner Tasche, damit er mich nicht vergessen würde.«
Didi erzählt gern von seinen Reisen und erlebt diverse Abenteuer, einmal wähnt er sich sogar von einem Ufo verfolgt, doch das Leben on the road hinterlässt auch Narben. Er wird mehrfach operiert, zweimal allein am Herzen, und geht danach notgedrungen in Rente – schließlich wird Darmkrebs bei ihm diagnostiziert. Bortoluci kümmert sich um seinen Vater, pflegt ihn. Als sein Zustand sich verschlechtert, dokumentiert er ihre Gespräche. Er will dem »Schweigen der Quellen« etwas entgegensetzen, der »Auslöschung der Zeugnisse derer, die ihre Geschichte mit Händen und Füßen schreiben, mit gesprochenen und gesungenen Worten, mit Schweiß und geschundener Haut. Ich versuche, das Territorium des Kommens und Gehens jener zu betreten, die für gewöhnlich keine Fotos geschossen, selten Tagebücher geführt, keine Interviews gegeben haben und auch nicht gefilmt wurden.«
Folglich lässt er seinen Vater erzählen und ergänzt dessen Worte mit eigenen Erinnerungen, Assoziationen und Lektürefrüchten, hängt kleine landesgeschichtliche, politische und soziologische Exkurse dran, um zu zeigen, dass in diesem Fernfahrer-Leben auch etwas Paradigmatisches steckt.
Bortoluci macht allerdings nicht den Fehler, die transkribierte Rede seines Vaters als bloße Quelle abzuwerten. Im Gegenteil, er hebt sie sogar durch Kursivierung hervor und lässt den Geschichten so ihr Eigenrecht. Das ist adäquat, denn Didi erweist sich jederzeit als lebendiger Erzähler. Sein Sohn hat sich mittlerweile zum Bildungsbürger gemausert und allerlei gelesen von Roland Barthes bis Neusa Sousa Santos, das muss er jetzt mitteilen – vielleicht, um seinem Vater zu demonstrieren, dass São Paulo und Ann Arbor nicht umsonst gewesen sind. Bisweilen liest sich das ein bisschen beflissen, manchmal auch eitel und redundant. Die eine oder andere akademische Schleife erschwert das Verständnis, ohne dass sie tiefgehende Einsichten zeitigen würde. Bortoluci hätte sich ruhig einmal öfter auf sein erzählerisches Talent verlassen können, das er offensichtlich von seinem Vater geerbt hat.
Für ihn ist dieses Buch vor allem geschrieben, und es ist ein Glücksfall, dass Didi das Erscheinen noch erlebt. Er hatte befürchtet, nichts hinterlassen zu können und »eines Tages nur als ein weiteres Rädchen im Reproduktionskreislauf der Arbeiterklasse« zu enden. Da kann ihn der Sohn jetzt beruhigen. »Mein Vermächtnis sind die Worte meines Vaters – die Worte der Geschichten aus meiner Kindheit und all der Geschichten, die ich in diesen letzten Jahren gehört habe, als ich half, seinen fragilen Körper zu pflegen.«
Bortolucis Fokussierung auf Didi erklärt ein wenig, warum seine völlig überforderte Mutter, die den kleinen José ganz allein aufzieht und nebenbei putzt, so blass bleibt und auch als handelnde Person kaum mal in Erscheinung tritt. Bemerkenswert ist dieses Defizit dennoch, auch weil es dem sonst so umsichtigen Autor gar nicht aufzufallen scheint.
José Henrique Bortoluci: Was von meinem Vater bleibt. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Maria Hummitzsch. Aufbau Verlag, Berlin 2024. 175 Seiten, 20 €.
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