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- Debatte um Zurückweisungen
Maximilian Pichl: »Wir haben einen dauernden Rechtsbruch«
Der Politikwissenschaftler und Jurist erklärt, gegen welche Gesetze Zurückweisungen an Binnengrenzen verstoßen
Herr Pichl, Geflüchtete, die an einer deutschen Binnengrenze ankommen, können dort Asyl beantragen. Wie funktioniert das?
Wenn sie von der Bundespolizei oder anderen Einheiten abgefangen werden und einen Asylantrag stellen, müssen sie in eine Aufnahmeeinrichtung gebracht werden. Dort gibt es dann ein individuelles Verfahren, in dem geprüft wird, in welchem europäischen Staat sie möglicherweise vorher schon gewesen sind. Sollte demnach Deutschland für den Asylantrag zuständig sein, wird inhaltlich geprüft, ob von der Person angegebene Fluchtgründe zutreffen.
Müssen die Menschen vorher gesagt haben, dass sie Asyl beantragen wollen?
Sie können es selber sagen. Die Polizei muss aber auch selbst schauen, ob es sich um schutzbedürftige Personen handelt, auch wenn beispielsweise ein Asylantrag nicht explizit formuliert wird.
Maximilian Pichl ist Professor für Soziales Recht als Gegenstand Sozialer Arbeit an der Hochschule Rhein Main in Wiesbaden. Seine Schwerpunkte liegen unter anderem im Asyl- und Migrationsrecht.
Immer mehr Menschen werden an der Grenze zu Österreich, aber auch zu den anderen deutschen Nachbarn zurückgewiesen. Ist das nicht rechtswidrig?
Solche Zurückweisungen verstoßen gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, die in Artikel 33 das Verbot des Refoulements bestimmt, und auch gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Auch wenn die Zurückschiebung in ein Land wie Österreich erfolgt, muss Deutschland immer prüfen, ob von dort nicht vielleicht eine Kettenabschiebung erfolgt und die Person in einem Staat landet, wo ihr Verfolgung droht.
Wie ist das bei Dublin-Fällen, wenn also bereits ein Asylantrag in einem anderen EU-Staat gestellt wurde? Auf die unmittelbare Zurückweisung dieser Menschen drängt nun CDU-Chef Friedrich Merz.
Auch dann dürfen die Menschen nicht sofort an der Grenze zurückgewiesen werden. Sondern es muss auf deutschem Territorium vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in einem sogenannten Dublin-Verfahren geprüft werden, welcher Staat zuständig ist. Das ist oft gar nicht so einfach herauszufinden, und deswegen bedarf es dieser Einzelfallbetrachtung.
Ist denkbar, dass die Polizei einfach behauptet, Menschen hätten keinen Asylantrag gestellt und dürften deshalb zurückgeschickt werden, ohne also Fingerabdrücke zu nehmen, den zuständigen Staat zu ermitteln und ein Übernahmeersuchen zu stellen?
Es ist jedenfalls so dokumentiert, etwa vom Bayerischen Flüchtlingsrat. Selbst Menschen, die klar gesagt haben, sie würden um Asyl ersuchen, wurden demnach nach Österreich zurückgebracht.
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Jens Spahn hat kürzlich gefordert, zur Migrationsabwehr an der deutschen Grenze müsse notfalls EU-Recht geändert werden. Welches meint er?
Wenn diese Zurückweisungen faktisch wieder eingeführt werden sollten, dann müsste man das europäische Recht grundlegend ändern, nämlich die Aufnahmerichtlinie, die Asylverfahrensrichtlinie und die Dublin-Verordnung. Wir haben ja gerade erst eine umfassende Reform des europäischen Asylsystems gehabt mit den größten Verschärfungen der letzten 30 Jahre, die 2026 in Kraft treten. Darin wurden diese Zurückweisungen an den innereuropäischen Grenzen gerade nicht legalisiert.
Um EU-Gesetze zu ändern, würde es also vermutlich wieder Jahre dauern?
Wenn eine Bundesregierung die Gesetze tatsächlich ändern möchte, dann muss sie mit allen Mitgliedstaaten, der Kommission und dem Parlament verhandeln. Die letzte Reform dieser Art hat fast acht Jahre lang gebraucht. Und dann gibt es noch die Genfer Flüchtlingskonvention und die Menschenrechtskonvention, die man nicht einfach so ändern kann.
Läuft die Forderung von Ex-Minister Spahn also darauf hinaus, EU-Recht einfach nicht anzuwenden, also ein paar Mahnungen der Kommission zu kassieren und auf Zeit zu spielen?
Das kann sein, weil natürlich so eine Praxis erst einmal wieder eingehegt werden müsste. Dazu passt auch die Rede von der Notlage von Unions-Chef Friedrich Merz, wonach EU-Recht in diesem Fall ausgesetzt werden dürfe. Da muss man aber genauer hinschauen. Es gibt zur Notlage den Artikel 78 der Europäischen Verträge, da muss der Rat, in dem die Mitgliedstaaten vertreten sind, auf Vorschlag der EU-Kommission, entscheiden – ein nicht ganz unkomplizierter Prozess. Oder Artikel 72, der die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung betrifft. Darauf spielt Merz an.
Als angebliche Notlage dann wieder sogenannte Massenankünfte von Geflüchteten?
Ja. Der Europäische Gerichtshof hat hierzu aber sehr scharfe Kriterien angelegt, weil er nicht möchte, dass die EU-Rechtsordnung zerfällt. In der Vergangenheit wurden etwa von Österreich oder Ungarn ausgerufene Notlagen nicht akzeptiert. Wahrscheinlich würde also auch Deutschland hier eine Niederlage kassieren. Aber vielleicht ist das eine Intention, auf Zeit zu spielen und mal zu schauen, ob das funktioniert.
Täuscht der Eindruck, dass solche EU-Rechtsverletzungen nach dem »Sommer der Migration« ab 2015 Mode geworden sind?
Besonders bei Grenzkontrollen, beispielsweise zwischen Dänemark oder Österreich und Deutschland, haben wir einen dauernden Rechtsbruch. Denn die Logik des Schengen-Raums ist, dass Kontrollen, wenn überhaupt, nur von kurzer Dauer sein dürfen und mit hinreichenden Gründen versehen sein müssen.
Die Polizeigewerkschaft GdP hat 35 Millionen Euro gefordert um die Migrationsabwehr an den Binnengrenzen mit Personal und Ausrüstung zu verbessern. Was erwartet uns da?
Wahrscheinlich mehr Nachtsichtgeräte oder Drohneneinsätze. Und vermutlich die Ausweitung der Schleierfahndung, die ein Einfallstor für Racial Profiling ist. Vor allem vermeintlich »nicht deutsch aussehende« Personen werden angehalten und überprüft. Außerdem höhlen die Kontrollen das Schengener Abkommen aus. Denn es werden nicht nur Menschen aus Drittstaaten wieder kontrolliert, sondern auch Unionsbürger*innen. Die Idee eines Europas der Reisefreiheit, wie sie im Schengener Abkommen niedergelegt wurde, ist damit eigentlich Geschichte.
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