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Charkiw: Das Gehirn der Ukraine
Charkow ist mehr als eine Stadt in der Nähe der Front. Es ist bekannt für seine Theater, seine Universität und eine lebendige Zivilgesellschaft
Charkow1 ist die Stadt, in der man Russisch spricht, viele Menschen mehr oder weniger offen Russland unterstützen, es jeden Tag russische Luftangriffe gibt und die Menschen sich wegen der vielen Luftangriffe kaum noch auf die Straße trauen. »Falsch«, sagt Maxim Rosenfeld. »Das sind alles Vorurteile, die nichts mit der Realität zu tun haben.« Und er muss es wissen. Rosenfeld wurde vor 49 Jahren in Charkow geboren, seitdem lebt der Doktor der Architektur praktisch ununterbrochen in seiner Stadt. Selbst zu Anfang des Jahres 2022, als täglich russische Raketen niederprasselten, blieb er. Ja, er erinnert sich an die ersten Monate des russischen Großangriffs, als eine Million Menschen die Stadt verließ. Leer war sie damals. Gespenstisch leer, sagt er. Und fast keine Frauen auf den Straßen. Mittlerweile ist Charkow wieder lebendig wie jede andere Großstadt. In den Straßen staut sich der Verkehr. Bars, Restaurants, Museen, Banken und Einkaufszentren haben ganz normal geöffnet. Die nahe Front scheint hier ganz weit weg.
Nachdenklich bleibt Maxim vor einem Theater stehen. Ein gelbes Banner kündigt eine lang ersehnte Vorstellung an. »Premiere zum 125. Geburtstag von Les Kurbas – Mykola Kulisch: Maklena Grasa«, heißt es da. Kurbas war ein ukrainischer Bühnen- und Filmregisseur, Pädagoge, Theoretiker, Übersetzer und Schauspieler. Er wurde 1937 im russischen Sandormoch von Stalins Schergen erschossen. Genauso wie Kulisch, einer der wichtigsten ukrainischen Dramaturgen des 20. Jahrhunderts. Das Theater hatte mit dem Banner für den 25. Februar 2022 eingeladen. Doch bislang hat die Premiere nicht stattgefunden. Denn am 24. Februar 2022 hatte Russland Charkow und andere ukrainische Städte angegriffen, aus der Luft und zu Land. Doch das Banner, so hatte die Theaterleitung entschieden, sollte bleiben. Solange, bis die Premiere endlich stattfinden kann.
»Dieses Banner«, so Rosenfeld, »steht für so vieles: für unser Gedenken an den russischen Angriff auf Charkow am 24. Februar 2022, für unser Gedenken an die Opfer von Sandormoch im russischen Karelien. Dort wurden 1937 und 1938 fast 10 000 Menschen hingerichtet. Die meisten von ihnen waren Ukrainer.« Und dieses gelbe Banner stehe auch für die Liebe der Bürger von Charkiw für die Kultur, Literatur und das Theater. Natürlich seien nach dem 24. Februar 2022 in der gesamten Stadt Theateraufführungen verboten worden, berichtet Maxim. Vorstellungen gab es trotzdem. Kürzlich seien zu einer Uraufführung 800 Menschen gekommen. »Alle durch den Hintereingang, den Umkleideraum der Schauspieler und die Bühne«, erzählt er. »In Zeiten des Friedens ist die Kultur wichtig. Im Krieg ist sie eine dringende Notwendigkeit.«
Jede Stadt stehe für etwas am Gesamtkörper, sagt man in der Ukraine: Kiew sei der Kopf, Odessa die Liebe, Dnipro der Geldbeutel, Donezk die Muskeln. Und Charkow sei mit seinen Theatern, seiner Universität und seiner lebendigen Zivilgesellschaft das Gehirn des Körpers mit dem Namen Ukraine.
Initiativgruppe »Gutes Handeln«
In einem Raum der Universität stapeln sich Herz- und Kreislaufmedikamente, Blutdruckmessgeräte und Verbandsmaterial. Im Nebenraum stehen Rollatoren, Rollstühle, Schuhe, Schränke mit Kleidung. Zweimal in der Woche öffnet die Frauengruppe von Charkiw die Türen. Als Russland seinen Angriff auf die Ukraine begonnen hatte und immer mehr Menschen aus den von Russland besetzten Orten des Gebietes Charkiw in die Stadt geflohen waren, fing eine kleine Gruppe um Michail Krasikow, einen Professor am polytechnischen Institut der Universität von Charkiw, an, für die Opfer des Krieges zu sammeln. Nachdem die Universität Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt hatte, wandte sie sich mit einem Spendenaufruf an Apotheken, Ärzte und die Stadtbevölkerung.
Und so kann hier jeder, der nachweisen kann, dass er Binnenflüchtling ist, zweimal pro Woche einiges holen, was er oder sie zum Leben braucht, berichtet Tatjana Wlasowa, die in der Gruppe für die Medikamentenabteilung zuständig ist. »Es schmerzt mich zu sehen, dass die Zivilbevölkerung, auf beiden Seiten, an diesem Krieg leidet. Und es schmerzt mich auch zu sehen, dass der Krieg Familien auseinandergerissen hat, die nun auf beiden Seiten der Front leben«, sagt Wlasowa »nd«.
Die Waldschützer*innen
Über einen dichten Kiefernwald, den einzigen seiner Art in der Stadt, gelangt man im Stadtteil Schichar zu einem Erholungsgebiet. Holzbänke und Tische laden zum Picknick ein. Ein kleiner Spielplatz lässt die Kinder die Zeit vergessen. Hier kann man sich erholen vom Stress, von der schlechten Luft und dem Lärm der Stadt, seinen Blick über einen See schweifen lassen, der unterhalb des Hanges liegt. Wer will, zieht die Badehose an, bewegt sich 100 Meter die Böschung hinunter und kann in einem kühlen See schwimmen. Ganz dicht am Hang stehen kleine Häuser. So einfach kann Urlaub in der Stadt sein.
Kein Wunder, dass der Kiefernwald von Schichar gemäß der Berner Konvention, die die Ukraine 1996 unterzeichnet und ratifiziert hat, als Teil des europäischen Smaragd-Netzwerks zum Naturschutzgebiet mit zentraler Bedeutung für die Wiederherstellung der Natur des Kontinents erklärt wurde. Die Berner Konvention, oder auch »Übereinkommen über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume«, ist ein 1979 verabschiedeter völkerrechtlicher Vertrag des Europarates zum Schutz europäischer, wildlebender Tiere und Pflanzen. Im vergangenen Jahr beschrieb ein Bericht des Europarats den Schichar-Wald als sehr artenreich.
Doch wer auf der Suche nach Ruhe und Stille ist, sollte diesen ansonsten idyllischen Platz besser nicht aufsuchen. Denn von acht Uhr in der Früh bis zum späten Nachmittag gräbt ein riesiger Bagger hier Sand ab. Die Sandgrube ist eine Gefahr, direkt und indirekt. Zum einen verlieren die Kiefern am Hang ihren Halt, fallen um oder rutschen ab, in das Wasser hinein. Zum anderen will der Betreiber die Sandgrube vergrößern. Und das bedeutet: Elf Hektar Wald sollen gerodet werden.
Neu ist das Problem des Sandabbaus hier am südlichen Stadtrand nicht. Nach Protesten wurde er 2008 zunächst eingestellt. Diesen Sommer wurde wieder gefällt. Offensichtlich stört der Wald bei der Erweiterung der Sandgrube.
Die Umweltschützer*innen Swetlana Kuraksina und Waleri Lawtschanowski kämpfen gegen die geplanten Rodungen. Sie wollen den Wald schützen, aber auch die Häuser, die direkt am Hang stehen. Sollte die Sandgrube weiter vordringen, könnten diese einfach abrutschen. Regelmäßig organisiert Kuraksina Treffen und Demonstrationen vor Ort. Die beiden Aktivist*innen wollen den Wald juristisch und physisch schützen. Solange sich Personen in einem Waldgebiet aufhielten, dürfe darin nicht gerodet werden, zitiert Lawtschanowski aus der ukrainischen Gesetzgebung. Und das wollen sie sich zunutze machen. Wollen einfach anwesend sein, wenn wieder eine Rodung befürchtet wird.
Einfach ist dieser Kampf nicht. Der Betreiber hat eine Genehmigung zur Nutzung des Areals. Von einer Erlaubnis zum Bäumefällen ist nicht die Rede. Doch der Betreiber hat das Gebiet einfach umwidmen lassen. Nun gilt es juristisch nicht mehr als Naturschutzgebiet. Es ist lediglich industriell nutzbares Gebiet – und damit sind Abholzungen erlaubt. Und der Betreiber der Sandgrube setzt immer wieder Gerüchte über die Umweltschützer in die Welt. Suggeriert, diese seien doch Separatisten, bedienten die Interessen Russlands. »Nein«, sagt Swetlana. »Das kann man uns doch wirklich nicht vorwerfen.« Sogar der Bürgermeister der Stadt, Ihor Terechow, sei auf ihrer Seite. Außerdem habe sie ihren Mann, der an der Front gekämpft hat, im Krieg verloren. Nun sei ihr Sohn an der Front.
Und so verbringt Swetlana weiterhin ihre Freizeit zum großen Teil im Wald von Schichar, spricht mit den Lkw-Fahrern und Wanderern, die zufällig vorbeikommen, über die Bedeutung dieses Naturschutzgebietes. Und von ihrem Notebook aus formuliert sie Demonstrationsaufrufe und Anzeigen gegen den Betreiber der ihrer Meinung nach illegalen Sandgrube.
Zero Waste Kharkiv
Zehn Fußminuten vom Hauptbahnhof entfernt befindet sich in einem Hinterhof die Halle von Zero Waste Kharkiv, der sogenannte Ökohub. Es ist ein emsiges Treiben, das den Besucher empfängt. Irgendwer bringt Plastikflaschen mit seinem Auto, ein anderer sammelt Bücher. Hier wird Müll sortiert und dann an Firmen geliefert, die ihn verwerten. Einfach ist das nicht, sagt Anna Prokajewa, die Leiterin der Initiative. Denn nach dem russischen Großangriff hätten viele Recycling-Firmen Charkow Richtung Westukraine verlassen. Doch in der Halle von Zero Waste Kharkiv kann man nicht nur Wertstoffe zum Wiederverwenden abgeben. Hier können sich auch bedürftige Bürger und die, die Wert auf einen ökologischen Lebensstil legen, nehmen, was andere nicht mehr brauchen konnten.
Die Arbeit am Ökohub ist nur ein Schwerpunkt der Gruppe. Letztlich, so Prokajewa, wolle man mehr als Mülltrennung. Man müsse die Müllvermeidung schaffen. Auch im Krieg sei das wichtig. Und der Ökohub unterstütze die Menschen, die es sich unter den derzeit schlechten wirtschaftlichen Bedingungen nicht mehr leisten können, alles, was sie zum Leben brauchen, selbst einzukaufen.
Schwerpunkt der Gruppe ist seit Jahren das Kompostieren organischer Abfälle. Allein in diesem Jahr habe man den Bau von zehn öffentlichen Kompostierern im Gebiet Charkiw durchgesetzt, erzählt Prokajewa. »Fast die Hälfte aller organischen Abfälle landet in den städtischen Containern, wo alles zusammenkommt. Und dieses Gemisch kommt dann auf die Mülldeponie. Eigentlich das Schlimmste, was mit organischen Abfällen passieren kann, denn sie verunreinigen Wertstoffe wie Metall, Plastik und Papier und machen es somit unmöglich, sie zu recyclen. Es gibt dann keinen Kompostierungsprozess, alles rottet einfach vor sich hin, und es bildet sich das klimaschädliche Methan. All das ist ein gefährliches Gemisch, das immer wieder Brände in Deponien verursacht hat. Und nicht zu vergessen: Mit dem Kompostieren erhält man wertvollen Dünger.« Im Vorort Ljubotyn beispielsweise hätten die Anwohner Listen gemacht, auf denen festgehalten ist, wer wie viel Eimer organischen Wertstoffs in den Kompostierer gegeben habe. Im Winter erhält jeder die entsprechende Menge Dünger.
Immer wieder hilft die Gruppe mit, kleine Kompostieranlagen zu bauen. Es wurden Kalender, Videos und Informationsblätter hergestellt, die deren Nutzen und Anwendung erklären. »Einige Kompostierer wurden mit ausländischer Hilfe gebaut. Doch eigentlich ist das eine Aufgabe, der sich die Behörden und Verwaltungen annehmen müssen«, schimpft Projakewa. Die sollten sicherstellen, dass für alle Bewohner fußläufig eine Kompostieranlage erreichbar ist.
Wichtig sei auch, das Bewusstsein der Bevölkerung zu schärfen, so Prokajewa. Viele Bewohner gerade in den Vororten, wo viele einen Garten haben, meinten, Mülltrennung und Müllvermeidung seien nicht so wichtig, man habe doch aktuell wichtigere Probleme. Die Aktivisten wollen hingegen aufklären, dass man auch jetzt handeln muss. Projakewa träumt von einer Ukraine, die sich auch im Umweltschutz an europäischen Gesetzen und Gepflogenheiten orientiert. Warten, bis der Krieg zu Ende ist, ist nicht ihr Ding.
Der Krieg in der Nähe
Mychajlo ist glücklich. Bald ist er wieder zu Hause. Er kämpft an der Front, hat nun zwei Wochen Heimaturlaub bei seiner Frau und ihrem gemeinsamen Sohn vor sich. Die Uniform hat er trotzdem an. Mychajlo fährt selten mit dem Nahverkehr. Und wegen dieser Abneigung musste er ein unangenehmes Verhör mit der Polizei erleben.
In der Stadt angekommen, betrat er die U-Bahn und erkundigte sich am Schalter, wo man denn Fahrkarten kaufen könnte. Was er nicht wusste: In Charkiw ist der öffentliche Nahverkehr seit Kriegsbeginn kostenlos. Die Gegenfrage der Frau am Schalter, ob er von hier sei, beantwortete er ehrlich mit Ja. Sofort wurde die Beamtin in der blauen Jacke stutzig. Unbemerkt rief sie per SMS die Polizei, verwickelte Mychajlo in der Zwischenzeit in ein belangloses Gespräch.
Ein Einheimischer, der nicht weiß, dass man seit zwei Jahren in Charkow kostenlos mit der U-Bahn fahren kann, kann kein Einheimischer sein, war sie sich sicher. Also ist irgendetwas faul an dem Mann, schlussfolgerte sie messerscharf. Die inzwischen herbeigerufenen Polizisten verhörten Mychajlo, wollten wissen, warum er in einen Vorort reisen wollte. Nach der Überprüfung seiner Papiere über den Zentralcomputer entschuldigten sie sich für den falschen Verdacht. Zum Abschied erklärten sie dem verwunderten Mychajlo: »In Zeiten wie diesen muss man nun mal vorsichtig sein.« Der Vorfall zeigt, wie nervös man in der Stadt ist und wie viel Angst man hat vor eingeschleusten Saboteuren.
Mychajlo macht sich auf den Heimweg. Mit einem Nahverkehrszug, der Elektritschka. Alles scheint wie immer. Frauen und Männer mit großen Tragetaschen ziehen durch den Zug und bieten alle möglichen und unmöglichen Sachen an: Kartoffeln, Heilkräuter, Socken, Eis, Getränke. Es sind vor allem Rentner und Rentnerinnen, die hier verkaufen. Jeder versucht zu überleben. Denn mit 100 Euro Rente kommt man nicht weit. Eine Sache fällt Mychajlo auf: In der Elektritschka wie in der U-Bahn sieht man vorwiegend Frauen.
Zu Hause in seinem Dorf angekommen atmet er sie endlich wieder, die Luft der Kiefernwälder. Kein einziges Auto kommt ihm entgegen, nur ein Fahrradfahrer, als er die Straße zu seinem Haus entlanggeht. Irgendwo kräht ein Hahn. Doch immer wieder ist ein »Bumbum« in der Ferne zu hören, so als würde es dort donnern. Mychajlo kennt das Geräusch der Artillerie. Nicht einmal in dem idyllischen Dorf, wo die Fichtenwälder bis an sein Haus reichen, lässt ihn der Krieg in Ruhe.
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In Charkow, das Mychajlo bei seiner Rückreise an die Front wieder durchquert – und er fährt gerne, hatte sich vor wenigen Monaten als Freiwilliger gemeldet –, ist auf den ersten Blick vom gerade einmal 30 Kilometer entfernten Krieg nichts zu sehen und zu hören. Lärm machen hier in erster Linie die Autos und Motorräder. Im zentralen Schewtschenko-Stadtpark flanieren junge Pärchen. Die Gespräche der Menschen in der Stadt drehen sich um Verwandte, Kinder, Ehepartner und anderes. Nur manchmal, in den Nächten, in denen es wegen der Ausgangssperre absolut ruhig ist, ist bei einer bestimmten Windrichtung auch dort ein leichtes Donnern in der Ferne zu hören.
Das Thema Krieg wird in den Gesprächen weitgehend vermieden. Man sucht die Normalität, will nicht mehr so leben wie zu Beginn des russischen Angriffs. Damals, so erinnern sich viele, seien sie wie erstarrt gewesen, hätten immer nur im Internet gelesen, wie die Lage an der Front sei. Auch, weil es doch sehr unterschiedliche Positionen gibt. Von der großen Einheit, wie sie in den staatlich kontrollierten Medien beschrieben wird, ist bei vertraulichen Gesprächen vor Ort wenig zu spüren.
Das Bild der großen Einheit trügt
»Ich kann das Gerede von ›irgendwann wird der Krieg zu Ende sein‹ nicht mehr hören«, schimpft Anna Prokajewa. »Der Krieg wird nicht einfach aufhören. Solange auch nur ein russischer Soldat auf ukrainischem Boden steht, werden wir weiter um unser Land kämpfen.«
»Wir sortieren und recyclen, versuchen den Kauf von Plastik zu vermeiden, weil wir mehr wollen, als nur überleben: Wir wollen leben. Wir halten so unser Land sauber, bewahren eine wertvolle Ressource, unser Land, das unsere Soldaten verteidigen. Unsere Front im Hinterland sieht so aus, dass wir die Ukraine näher an die europäische Gesetzgebung heranführen wollen. Und wir tun alles, um uns vom sowjetischen Erbe zu entfernen. Unsere Vision ist, dass die Städte der Zukunft im Prinzip deponiefrei sein sollten. Dazu brauchen wir jedoch nicht nur eine andere Kultur im Umgang mit der Umwelt, wir brauchen auch andere Formen von Produktion und Vertrieb. Und damit unterstützen wir lokale Unternehmen und Arbeitsplätze, die den Haushalt der Ukraine speisen und so Armee und Wirtschaft stärken«, sagt Prokajewa.
»Für mich ist das Ganze wie Paraguay«, sagt dagegen Tatjana, die im Gesundheitswesen arbeitet und nicht mit richtigem Namen in der Zeitung erscheinen will, aus Angst, man könne ihr Separatismus vorwerfen. »Da war im letzten Jahrhundert ein Krieg, der die halbe Bevölkerung vernichtet hat. Und in so einer Situation sind wir jetzt hier.«
»Ich glaube unseren Medien nicht, die uns glauben machen wollen, dass unsere Armee nur auf militärische Ziele schießt. Auch Zivilisten leiden. Und mit denen habe ich Mitleid, mit allen, den ukrainischen und den russischen«, sagt die Verkäuferin Olesja. Auch sie möchte nicht mit ihrem Namen in der Zeitung erscheinen und hat Angst, man könne ihr vorwerfen, ein russisches Narrativ zu verbreiten. Sie habe Verwandte im russisch besetzten Horliwka. Und diese berichteten ihr immer wieder von ukrainischen Angriffen – auch auf zivile Ziele. Sie möchte nur eines: dass dieser Krieg endlich aufhört, egal wie.
Schon heute an morgen denken, sagt sich Maxim Rosenfeld. Seit April 2022 arbeiten Architekten von Charkow an einem Generalplan einer modernen Stadt. Und Rosenfeld freut sich, dass sich der bekannte britische Architekt Sir Norman Foster entschieden hat mitzuhelfen.
1 An der Einfahrt zur zweitgrößten Stadt der Ukraine stehen zwei weiße Obelisken. Darauf der Name des Ortes auf Russisch und Ukrainisch: Charkow und Charkiw. Ukrainisch ist Staatssprache, in der Stadt selbst sprechen die Menschen überwiegend Russisch. Der Autor hat sich entschieden, beide Stadtnamen im Text zu verwenden, um so den Gegebenheiten vor Ort gerecht zu werden.
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