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Klimaneutralität am Industriestandort

Deutsche Industrie setzt auf grüne Transformation – wenn der Staat sie mitfinanziert

Am Hochofen 8 auf dem Werksgelände von Thyssen-Krupp in Duisburg
Am Hochofen 8 auf dem Werksgelände von Thyssen-Krupp in Duisburg

Sein Lieblingsbeispiel bei der Frage, wie viel Industrie Deutschland künftig noch brauche, sei die Keramikindustrie, sagt Siegfried Russwurm, seines Zeichens Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Ob Tassen oder Untertassen aus Keramik in Deutschland hergestellt werden oder nicht, spiele zwar keine Rolle. Doch zwei Drittel des Industriezweigs mache hier die technische Keramik aus, mit Gelenkimplantaten, Keramiklagern für Hochleistungsturbinen oder Isolation für Höchstspannungs-Elektrifizierung. Wer glaube, Deutschland sei der falsche Standort für so eine energieintensive Industrie, unterschätze die Querbeziehungen der Keramikbranche zur gesamten Wirtschaft, so Russwurm.

Der BDI-Chef gab das Beispiel am Dienstag bei der Präsentation der Studie »Transformationspfade« zum Besten. Das umfangreiche Papier hatte der Spitzenverband bei der Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG) und dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Auftrag gegeben. Die beiden Grundbotschaften: Erstens soll Deutschland an seiner im Vergleich zu anderen Ländern hohen industriellen Wertschöpfung festhalten. Diese liegt laut den Angaben immer noch bei rund 20 Prozent der Wirtschaftsleistung, der EU-Schnitt beträgt 16 Prozent, in Großbritannien und Frankreich um die zehn Prozent. Zweitens hält die deutsche Industrie am Ziel der grünen Transformation fest. Diese Aufgabe sei im Klimaschutzgesetz verankert, betonte IW-Direktor Michael Hüther. Das Zieljahr 2045 für die Klimaneutralität sei ein »Strukturwandel per Termin«.

Technologisch sei dies machbar, betonte Russwurm seinerseits. Wobei Dekarbonisierung auch unter starker Nutzung der umstrittenen CCS-Technologie gelingen soll, bei der CO2 in der Produktion nicht vermieden, sondern nur abgeschieden werden soll. Die Transformation wird laut dem BDI-Chef aber erschwert, weil Deutschland fast überall in den vergangenen Jahren zurückgefallen sei. Deindustrialisierung sei ein »reales Risiko«. Um das abzuwenden, hält die Studie Investitionen von 1,4 Billionen Euro bis 2030 für nötig. Zwei Drittel davon sollten von Unternehmen und Haushalten kommen, ein Drittel aus öffentlichen Kassen.

In seiner vor sechs Jahren veröffentlichten Studie »Klimapfade« hatte der BDI die Kosten noch auf 860 Milliarden Euro veranschlagt, um bis 2030 die damals noch deutlich weniger ehrgeizigen Klimaziele zu erreichen. Berücksichtigt man, dass seitdem wegen Inflation, Covid-Pandemie und Ukraine-Krieg die Preise für Rohstoffe, Energie und Dienstleistungen vielfach gestiegen sind, hat sich die grüne Transformation nicht sehr verteuert – nur steht inzwischen weniger Zeit zur Verfügung.

Russwurm hält es dringend für notwendig, dass die Politik die aktuelle Notlage in der ganzen Breite und Tiefe erkennt und endlich handelt. Statt gut gemeinter Konjunkturprogramme brauche es eine Neuausrichtung der industriepolitischen Agenda. Allerdings lehnt er das Aufheben der Schuldenbremse zur leichteren Finanzierung der 1,4 Billionen ab. Stattdessen sprach er lang und breit über nötige Priorisierungen im Bundeshaushalt und über steigende Effizienz öffentlicher Ausgaben. Man werde sich nicht mehr alles leisten können, was wünschenswert sei, stellte der Industriepräsident klar – und dürfte sich des Beifalls des Bundesfinanzministers und der Union sicher sein.

IW-Chef Hüther wies seinerseits darauf hin, dass es für Änderungen an der Schuldenbremse keine »demokratische verfassungsändernde Mehrheit« gebe. Zur Sicherung der industriellen Basis gehörten jetzt wettbewerbsfähige Energiepreise, schnelle Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie eine modernisierte und weiter ausgebaute Infrastruktur – von Wasserstoffnetzen über Verkehr bis zu Digitalem.

Da es bei der deutschen Industrie vielfach um energieintensive Grundstoffbranchen wie Chemie, Baustoffe, Stahl und Aluminium geht, legt die neue Studie des BDI einen Schwerpunkt auf Energiepreise. Vorgeschlagen wird ein Industriestrompreis, bei dem die Nutzer von steigenden Netzentgelten verschont bleiben sollen.

Als industrielle Zukunftsbranchen identifizierte BCG-Experte Michael Brigl die Bereiche grüne Energie, Netztechnik, E-Autos, Wärmepumpen, Power-to-Heat (Wärmespeicherung), Wasserstoff, Robotik, industrielle Anwendungen künstlicher Intelligenz und Gesundheitstechnologien. Daraus könne Deutschland absehbar das meiste Wachstum holen, betonte er. Vor allem in grünen und digitalen Technologien wird laut Studie bis 2030 ein Weltmarkt von jährlich mehr als 15 Billionen Euro entstehen.

Hingegen droht vor allem der deutschen Automobilindustrie und Unternehmen im fossilen Anlagenbau ein erheblich schrumpfender Weltmarkt für ihre Kerntechnologien. Und manchen Branchen wird die Transformation gar nicht zu neuer Blüte verhelfen: Beispielsweise wird die Aluminiumherstellung spürbar unter dem Vorkrisenniveau von 2019 bleiben.

Die grüne Transformation hat sich nicht sehr verteuert – nur steht inzwischen weniger Zeit zur Verfügung.

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