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Ständig auf Durchreise
In »Der Ernst des Lebens« entwirft Ulrich Peltzer für sich eine alternative Biografie
Dieser Roman wirkt so, als wäre er nicht geschrieben, sondern gesprochen worden. Der mündliche Charakter von »Der Ernst des Lebens«, zieht den Leser sofort in den Text. Es ist, als säße Ulrich Peltzer an der Bar eines Hotels neben dem Ich-Erzähler Bruno van Gelderen und höre ihm zu. Eine Hotelbar deshalb, weil van Gelderen, wie viele Romanfiguren Peltzers, unter einer gewissen transzendentalen Obdachlosigkeit leidet. Ständig auf Durchreise weiß er nicht richtig, wohin er gehört.
Aufgewachsen in einer rheinischen Bauernfamilie, repräsentiert er auf paradigmatische Weise die Entwurzelung von Herkunft und Tradition. Statt Bauer zu werden und den Hof zu übernehmen, bricht er mit seinem Ursprung und geht zum Studium nach Berlin. Dort bleibt er eher zufällig in einer Konzertagentur hängen, einem Ort, an dem er sich weiter von Projekt zu Projekt hangeln kann, aber nie wirklich irgendwo ankommt. Deshalb ist es kein Wunder, dass er sich mit einem Kollegen am besten versteht, von dem man nach van Gelderens Schilderung annehmen darf, dass er sich aus den traditionellen Verhältnissen einer Migrantenfamilie zu befreien versucht.
Doch dann holt ihn der »Ernst des Lebens« ein. Es ist eine rätselhafte Bewegung und er kann sie sich selber nicht wirklich erklären: Er wird spielsüchtig. Zufällig geht er in eine Spielothek und setzt sich vor einen Geldspielautomaten. Nach dem ersten größeren Gewinn verbringt er heimlich immer mehr Zeit in den verschiedenen Spielhallen der Stadt, beginnt zu trinken und sich mit Drogen aufzuputschen. Nach und nach setzt er seine ganze Existenz – im wahrsten Sinne des Wortes – aufs Spiel.
Erst leiht er sich Geld von seinen Agenturkollegen, das er nie zurückzahlen kann, weil der Automat letztlich immer gewinnt, dann erzählt er seinem Bruder, der den elterlichen Hof übernommen und erfolgreich mit seiner Frau in einen Biohof umgewandelt hat, er würde für eine Unternehmensidee Geld benötigen, bis er dann das Konto seiner Freundin mit einer gefälschten Unterschrift leerräumt. Als er aus der Konzertagentur entlassen, von seiner Freundin verlassen, allein und obdachlos auf der Straße landet, überfällt er eine Tankstelle und einen Späti, nur um weiterspielen zu können. Er wird erwischt und landet im Knast.
Van Gelderen erzählt rückblickend und nicht linear. Das trägt zum mündlichen Charakter des Romans bei. Immer wieder springt er zeitlich in seiner Lebensgeschichte vor, dann wieder zurück. Deshalb erfährt der Leser schnell, dass er nach seiner Zeit im Gefängnis die Seiten wechselt, aber irgendwie der Branche treu bleibt. Statt sein eigenes oder geliehenes Geld zu verspielen, spekuliert er als Vermögensverwalter mit dem Geld anderer. Das geht nicht immer gut. Aber alles ist legal und auf das Risiko weist er immer hin. Doch »fünf oder zehn Prozent mehr als bei gewöhnlichen Investments«, sagt er, »und der Verstand verabschiedet sich auch bei ganz prosaischen Menschen.« Dass er diesen Job gefunden hat, geschah wieder eher zufällig. Nach dem Gefängnis hatte er zunächst als Sportreporter für ein Onlinemagazin gearbeitet. Ein georgischer Geschäftsmann und Sponsor eines Fußballvereins, den er auf der Tribüne kennenlernt, erkannte sein Talent und stellte ihn in seiner Firma ein.
Wenn man so will, kann man »Der Ernst des Lebens« als einen Bildungsroman lesen, bei dem der Held im Knast kapiert, dass es so nicht weitergeht. Gleichzeitig lässt sich Bruno van Gelderen als Alter Ego des Autors verstehen und den Roman als Probehandeln, als Durchspielen einer alternativen Biografie: So hätte mein Leben auch aussehen können. Dabei neigt Peltzer nicht zur Dramatisierung, obwohl es in van Gelderens Lebenslauf ja faktisch immer wieder dramatische Wendungen gab. Aber das wird in nüchternem Ton berichtet. Auch die Zeit im Knast wird nicht groß illustriert. Neben der Beschreibung anderer Figuren und Biografien geht es in »Der Ernst des Lebens« vor allem um die Reflexion der Biografie von van Gelderen. Das liest sich überraschenderweise spannend und mit Gewinn. Das Ende bleibt offen. Die Reise geht weiter, aber auf einem anderen, auf einem neuen Gleis.
Ulrich Peltzer: Der Ernst des Lebens. Fischer, 204 S., geb., 24 €.
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