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Iran: Zwischen Unterdrückung und zivilem Ungehorsam

Eine Bilanz der Proteste im Iran zwei Jahre nach dem Tod von Jina Mahsa Amini

  • Omid Rezaee
  • Lesedauer: 6 Min.
Seit den Protesten vor zwei Jahren legen mehr Iranerinnen in der Öffentlichkeit das Kopftuch ab
Seit den Protesten vor zwei Jahren legen mehr Iranerinnen in der Öffentlichkeit das Kopftuch ab

Am zweiten Jahrestag des Todes von Jina Mahsa Amini im Gewahrsam der sogenannten Sittenpolizei hat die Islamische Republik Iran ihre Sicherheitsmaßnahmen verstärkt. Jinas Vater hat angekündigt, dass, sofern die Regierung keine Hindernisse aufstelle, eine Gedenkveranstaltung am Grab seiner Tochter auf dem Aichi-Friedhof in Saqqez, in der Provinz Kurdistan, Iran, abgehalten wird. Letztes Jahr verweigerten die Sicherheitskräfte die Durchführung einer Gedenkzeremonie, sperrten die Straßen, die zum Friedhof führten, und lenkten sogar den Fluss um, um durch Überschwemmungen die Teilnahme der Menschen zu verhindern.

Am 13. September 2022 war die 22-jährige Kurdin Jina Mahsa Amini, die mit ihrer Familie nach Teheran gereist war, um Verwandte zu besuchen, von der Sittenpolizei verhaftet worden, angeblich wegen Verstoßes gegen die Bekleidungsvorschriften. Jina fiel im Polizeigewahrsam ins Koma und starb schließlich am 16. September im Krankenhaus. Ihr Tod löste die – wie viele Beobachter sagen – umfassendsten Proteste gegen die islamische Herrschaft seit der Revolution von 1979 aus. Fast sechs Monate lang wurden die Straßen des Landes von massiven Demonstrationen, Streiks und Unruhen erschüttert. Die iranischen Sicherheitskräfte reagierten mit beispielloser Gewalt, die zahlreiche Todesopfer und Verletzte forderte.

Hunderte Tote bei Protesten

Aufgrund der systematischen Geheimhaltung durch den Staat, der Zensur der Medien und der eingeschränkten Zugangsmöglichkeiten für Menschenrechtsorganisationen gibt es keine genauen Angaben über die Zahl der Toten und Verletzten dieser Bewegung. Berichte der BBC und einiger Menschenrechtsorganisationen deuten jedoch darauf hin, dass zwischen September 2022 und Februar 2023 zwischen 500 und 600 Menschen getötet wurden. 109 Demonstrierende wurden nach ihrer Festnahme zum Tode verurteilt, acht dieser Urteile wurden bereits vollstreckt. Nach Angaben der in Norwegen ansässigen Menschenrechtsorganisation Iran Human Rights wurden mindestens 580 Personen durch gezielte Schüsse der Sicherheitskräfte in die Augen getroffen.

Die von den Vereinten Nationen eingesetzte unabhängige Untersuchungskommission zum Iran machte die Islamische Republik für die »physische Gewalt« verantwortlich, die zum Tod von Jina führte. In einem detaillierten vorläufigen Bericht, der am 8. März 2024, dem Internationalen Frauentag, dem UN-Menschenrechtsrat vorgelegt wurde, stuft die Kommission die Maßnahmen des iranischen Staates gegen Frauen als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« ein.

Minderheiten seit den Protesten unterdrückt

Der am 5. August 2024 veröffentlichte Bericht des UN-Menschenrechtsrates bestätigt offiziell, dass Minderheiten im Iran seit Beginn der »Frau, Leben, Freiheit«-Bewegung im Jahr 2022 unverhältnismäßig und übermäßig unterdrückt wurden. Besonders betroffen waren die Regionen Khuzestan, Kurdistan, Kermanschah, Ost- und West-Aserbaidschan sowie Sistan und Belutschistan, in denen viele ethnische Minderheiten leben.

Die groß angelegten Proteste mit dem Slogan »Frau, Leben, Freiheit« erschütterten über sechs Monate hinweg die Straßen Irans, führten jedoch nicht zu einer tiefgreifenden politischen Veränderung. Obwohl die Sittenpolizei während der Proteste zeitweise aus den Straßen verschwand, nahm die Islamische Republik nach deren Abklingen die Durchsetzung der Gesetze zur Zwangsverschleierung mit noch größerer Härte wieder auf. Neue Technologien wie Gesichtserkennungskameras wurden in Großstädten eingesetzt, und Autos von Frauen, die ohne Kopftuch fuhren, wurden beschlagnahmt.

Bewegung hat iranische Städte verändert

Die Regierung ging sogar so weit, eine Frau wegen ihres Aufenthalts ohne Kopftuch auf den Straßen auszupeitschen. Frauen, die sich weigern, den Hidschab zu tragen, wurden von sozialen Dienstleistungen wie Bankgeschäften ausgeschlossen. Trotz dieser repressiven Maßnahmen und obwohl keine bedeutende politische Veränderung stattfand, hat die »Frau, Leben, Freiheit«-Bewegung das Gesicht der iranischen Städte für immer verändert.

»Die iranischen Städte haben sich daran gewöhnt, Frauen ohne Kopftuch zu sehen«, sagt Shiva, eine 27-jährige Iranerin aus Teheran, die an den Straßenprotesten teilnahm. »Obwohl das Gesetz zur Zwangsverschleierung immer noch existiert und die Regierung versucht, es streng durchzusetzen, nehmen viele Frauen, die nicht an den Hidschab glauben, ihr Kopftuch ab, sobald sie sicher sind, dass keine Polizei in der Nähe ist.« Für Shiva ist das ein großer Sieg der Bewegung. Sogar in Städten, in denen die Proteste nicht so stark waren wie in der großen Stadt Ardabil im Nordwesten Irans, hat sich das Leben verändert, insbesondere das der Frauen.

Langsamer gesellschaftlicher Wandel

Maryam, eine 32-jährige Frau aus Ardabil, die in Teheran lebt, berichtet: »Meine religiöse Familie hatte mich nach meinem Umzug nach Teheran lange Zeit verstoßen, weil sie der Meinung war, dass eine Frau nicht allein leben sollte. Nach dieser Bewegung hat sich ihre Haltung mir gegenüber geändert.« Maryam stellt in ihren Reisen nach Ardabil fest, dass die Kleiderordnung der Frauen freier geworden ist und religiöse Familien ihren Töchtern mehr Freiheiten einräumen.

Farzaneh, Soziologin und feministische Aktivistin in Iran, sieht in diesen Veränderungen einen gesellschaftlichen Wandel, der so weit reicht, dass er als »erfolgreiche soziale Revolution« bezeichnet werden kann. Farzaneh, die im November 2022 für kurze Zeit inhaftiert und schließlich zu zwei Jahren Bewährungsstrafe verurteilt wurde, ist der Ansicht, dass die Bewegung auch auf politischer Ebene nicht völlig gescheitert ist: »Auch wenn der Tod von Präsident Ibrahim Raisi ein Zufall war, könnte die Zulassung eines Reformkandidaten bei den vorgezogenen Wahlen ein Ergebnis der Bewegung gewesen sein. Die Regierung ist ein wenig zurückgewichen und hat darauf verzichtet, den sozialen und politischen Raum weiter zu verschließen.«

Peseschkian kritisierte Vorgehen gegen Demonstranten

Massud Peseschkian, der neue Präsident Irans, der im Juni 2024 bei den vorgezogenen Wahlen an die Macht kam, war während der »Frau, Leben, Freiheit«-Bewegung Abgeordneter im Parlament der Islamischen Republik, dem Madschlis. Er kritisierte offen das gewaltsame Vorgehen gegen die Demonstranten und forderte eine Untersuchung der Todesursache von Jina Mahsa Amini. Peseschkian war der einzige Präsidentschaftskandidat, der die Proteste von 2022 nicht vollständig verurteilte und sie in gewissem Maße als Volksbewegung anerkannte. Obwohl die Macht des Präsidenten im Iran stark eingeschränkt ist und es als unwahrscheinlich gilt, dass Peseschkian umfassende Reformen durchführen kann, hat allein die Tatsache, dass die Islamische Republik ihm die Regierung überließ, viele überrascht.

Farzaneh glaubt jedoch, dass die Islamische Republik zumindest auf symbolischer Ebene niemals eine Niederlage in der Kopftuchfrage akzeptieren wird. »Die Regierung verfolgt eine klare Strategie: strikte Kontrolle des Hidschabs in den Zentren der großen Städte, die eine politische und symbolische Bedeutung haben, und weniger Kontrolle anderswo.« Sie erklärt, dass dies nicht auf Großzügigkeit, sondern auf mangelnde Ressourcen der Regierung zurückzuführen sei, die nicht alle Teile der Städte im Blick behalten könne.

Auf politischer Ebene scheint die Islamische Republik jedoch die Erschütterungen durch die Proteste überwunden und ihre Macht gefestigt zu haben. Morteza, ein 24-jähriger Politikwissenschaftsstudent aus der Stadt Isfahan, sagt: »Auch wenn der zivile Ungehorsam der Frauen weitergeht, gibt es derzeit weder im Inland noch im Exil eine politische Kraft, die in der Lage wäre, diesen Widerstand zu organisieren und in eine starke politische Bewegung zu verwandeln.«

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