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Bürgergeldsätze: Pikante Zahlen unter Verschluss
Die Bürgergeldsätze sind für eine vollwertige Kinderernährung zu gering. Olivier David meint: Der Minister macht sich mitschuldig an Mangelernährung.
Traue keiner Statistik, die du nicht selbst hinter Verschluss gehalten hast. So oder so ähnlich könnte man beschreiben, was in Hubertus Heils (SPD) Bundesarbeitsministerium seit vergangenem Jahr praktiziert wird. Die »Berliner Zeitung« berichtet nämlich, dass sein Ministerium seit Mitte 2023 ein Gutachten unter Verschluss hält. Der Inhalt des Papiers besagt, dass die Bürgergeldsätze für eine vollwertige Kinderernährung zu gering sind.
In dem Gutachten der Universitätsklinik Bochum heißt es, dass die Kosten für das von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung empfohlene Modell einer »optimierten Mischkost« bei älteren Kindern und Jugendlichen rund zehn Prozent über den Regelsätzen liegen. Übersetzt bedeutet das: Der Bürgergeldsatz, der für die Ernährung bestimmter Altersgruppen berechnet worden ist, reicht nicht aus, um Jugendliche ausgewogen zu ernähren. Besonders hart kommt es für Jungs ab 15 Jahren, denn die haben einen erhöhten Kalorienbedarf. Dort liegen die Kosten für eine ausgewogene Ernährung laut der Erhebung knapp 20 Prozent über dem Bürgergeldsatz von 2022: Nötig wären 199 Euro statt der veranschlagten 166 Euro.
Um die Lebensmittelpreise zu kalkulieren, dienen den Forschenden die Einzelhandelspreise aus dem November 2022 als Grundlage. Die Regelsätze wurden seither zwar mehrfach erhöht, doch sind die Lebensmittelpreise proportional dazu noch höher gestiegen.
Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen. Zudem hostet er einen gleichnamigen Podcast über Klasse, Krise und Kultur. Alle Folgen auf dasnd.de/klasse.
Links des Unrechts herrscht Empörung – und das zu Recht. Sanktionsfrei-Gründerin Helena Steinhaus erkärt: »Diese Studie absichtlich zurückzuhalten, ist ein Armutszeugnis für das Ministerium.« Für Heidi Reichinnek ist die Zurückhaltung der Ergebnisse ebenfalls ein Unding. Dass die Studie seit über einem Jahr zurückgehalten werde, »verdeutlicht erneut, dass Kinderarmut keine Priorität in dieser Regierung hat«, so die Vorsitzende der Bundestagsgruppe der Linken. Und wie reagiert das Arbeitsministerium auf die Vorwürfe? Mit Ablehnung. Das Motto: Es sei doch alles so furchtbar kompliziert. Eine Sprecherin teilte mit, beim Bürgergeldsatz handele es sich um »einen monatlichen Pauschalbetrag«, der »keine spezielle monatliche Pauschale für Nahrungsmittel oder für andere Verwendungszwecke« beinhalte.
Nur alle fünf Jahre wird ermittelt, wie viel Menschen mit geringem Einkommen tatsächlich für Ernährung ausgeben. Die Ergebnisse dieser Befragung dienen als Grundlage der Kalkulation. Die letzte Erhebung war 2018, also noch bevor die Lebensmittelpreise und die Lebenshaltungskosten rasant angestiegen sind. Zwar ist auch das Bürgergeld angehoben worden, dennoch erleiden Menschen, die auf Bürgergeld angewiesen sind, einen realen Kaufkraftverlust.
Laut dem Wissenschaftler Hans Konrad Biesalski sind in Deutschland sogar 20 Prozent der Kinder von Ernährungsarmut betroffen. Die Folgen davon fasst er so zusammen: »Die körperliche Entwicklung ist gestört, die Kinder wachsen nicht richtig und die geistige Entwicklung zeigt eindeutige Lücken. Die Sprachentwicklung zeigt Mängel, die schulischen Leistungen sind deutlich unter denen von Kindern Besserverdienender.« Das kann Heil nicht wollen. Oder doch?
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