Wirtschaftswissenschaft vom Kopf auf die Füße stellen

Der Ökonom Heiner Flassbeck schreckt in seinem neuen Buch nicht vor Kritik an Säulenheiligen der Linken zurück

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.
Heiner Flassbeck, Ökonom und ehemaliger Konjunkturchef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, kritisiert das Gleichgewichtsmodell der Klassik und Neoklassik als »vollkommen weltfremd«.
Heiner Flassbeck, Ökonom und ehemaliger Konjunkturchef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, kritisiert das Gleichgewichtsmodell der Klassik und Neoklassik als »vollkommen weltfremd«.

Der marktradikale Kapitalismus steckt in einer Dauerkrise, die deutsche Wirtschaft schwächelt, die Produktivität stagniert. Während Banken und Versicherungen, Pharma-, Big-Tech- und Energiekonzerne Rekordgewinne einfahren, kämpfen Branchen wie die Automobilindustrie mit den Herausforderungen der »grünen« Transformationen.

Schluss also mit der marktliberalen Märchenstunde, befindet Heiner Flassbeck in seinem neuen Buch »Grundlagen einer relevanten Ökonomik«. Weder die Kapital- noch die Arbeitsmärkte erbrächten die Ergebnisse, die von der übergroßen Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler behauptet würden. Der frühere Konjunkturchef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) will nichts weniger, als die Wirtschaftswissenschaften »vom Kopf auf die Füße« stellen.

Empirisch, also anhand von langen Datenreihen, zeigt der Ökonom, dass seit Beginn der 1980er Jahre, »also vom Beginn der neoklassischen Konterrevolution an«, dem marktwirtschaftlichen System die Investitionsdynamik abhandenkam, weil die Industrieländer eine investitionsfeindliche Politik verfolgten. Von 1950 bis 1980 war das noch weltweit anders.

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Im Kern kritisiert Flassbeck das Gleichgewichtsmodell der Klassik und Neoklassik, das für ihn gleichbedeutend mit dem neoliberalen Mainstream in der Wirtschaftswissenschaft ist. In diesen Modellen werden alle wichtigen Größen der Volkswirtschaft von flexiblen Preisen gesteuert. Dieser Preismechanismus sorgt dafür, dass die wirtschaftliche Entwicklung nach einer Störung wieder in ihr Gleichgewicht zurückkehrt. »Ein vollkommen weltfremdes Modell«, schreibt Flassbeck wenig überraschend.

Keynes modelliere eine Kunstwelt

Origineller ist dagegen Flassbecks Kritik am Keynesianismus in all seinen Spielarten. Er habe sich durch ungeeignete Methoden und falsche Zugeständnisse »ins Abseits begeben«. Flassbeck stört der statische Modellcharakter, auch der Keynesianismus biete keine befriedigende Theorie des Wachstums. Er modelliere eine »Kunstwelt«, die nur wachsen könne, wenn die unterstellten Bedingungen erfüllt wären. Wie Klassik und Neoklassik fokussiere sich diese auf Konsumverzicht: »Sparen war und ist die einzige Möglichkeit, die einem Haushalt oder einer Volkswirtschaft zur Verfügung steht, um sich aus den gegebenen Lebensumständen zu befreien.« Komme intelligente Technik hinzu, umso besser.

Joseph Schumpeter sei daher wichtiger als John Maynard Keynes. Wenn schon nicht Karl Marx, gilt Letzterer als Verfechter der antizyklischen Wirtschaftspolitik unter linken Ökonomen eigentlich als Säulenheiliger. Doch Schumpeters »epochaler Versuch«, mit seiner »Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung« Entscheidendes zu ändern, sei bis auf einige Schlagworte wie »Schöpferische Zerstörung« oder »Pionierunternehmen« zu Unrecht weitgehend untergegangen.

Joseph Schumpeter beschreibt im Einklang mit Marx das Profitstreben der Unternehmen als die eigentliche Triebkraft des Kapitalismus. Besonders hoch ist der (Pionier-)Gewinn bei neuen Produkten, wenn sie sich am Markt durchsetzen. »Die riskante Aktion eines Einzelnen stößt eine Bewegung an, bei des es schließlich gelingt, den Lebensstandard aller am Wirtschaftsprozess Beteiligten zu erhöhen.« Beispiel Handy: Während das »Pionierunternehmen« Nokia längst vom Markt verschwunden ist, versorgen Apple, Huawei und Samsung die Welt bis in die letzten Winkel mit ihren Smartphones.

Damit Pionierunternehmen loslegen können, benötigen sie Geld für Investitionen. Daher könne man »die Konjunkturbewegung kreditpolitisch beeinflussen und sogar verhindern«, zitiert Flassbeck zustimmend den österreichischen Ökonomen und Politiker. (Zentral-)Banken komme eine grundlegende Bedeutung zu. Sie schafften Geld »aus dem Nichts« und ermöglichten zusätzliche Nachfrage nach Investitionsgütern, die das System aus dem stationären Kreislauf reiße.

Es ist offenkundig, dass Flassbeck damit die Hochzinspolitik der Zentralbanken seit dem Sommer 2022 sowie früherer Epochen kritisiert. Zu hohe Zinssätze verhindern Investitionen, weil sie die Profitchancen der Unternehmen dämpfen. Zugleich müsse der Staat die drei makroökonomischen Preise – Zins, Lohn und Wechselkurse – steuern.

In vielem ähneln Positionen und Empfehlungen denen der keynesianisch ausgerichteten Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Man mag sich an dem Ego-Stil Flassbecks stören, gut lesbar und streitbar ist sein Lehrbuch allemal. Leider fehlt ein Stichwortverzeichnis. Seine neue Auswertung jahrzehntelanger Datenreihen sollte die Wirtschaftspolitik in Deutschland beleben.

Heiner Flassbeck: Grundlagen einer relevanten Ökonomik, 464 Seiten, Westend Verlag, 68 €.

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