Tarifstreit im Einzelhandel: »Sie waren sehr entschlossen«

Verdi-Bundesvorständin Silke Zimmer über den zähen Tarifstreit im Handel, neue Streikdynamiken und den Kampf für Geschlechtergerechtigkeit

Im Einzelhandel arbeiten überwiegend Frauen, viele sind aufgrund der niedrigen Löhne von Altersarmut betroffen.
Im Einzelhandel arbeiten überwiegend Frauen, viele sind aufgrund der niedrigen Löhne von Altersarmut betroffen.

Die Tarifverhandlungen im Handel waren zäh. Sind Sie zufrieden mit dem Ergebnis?

Ja, wir haben mit den Kolleginnen und Kollegen eine deutliche Einkommenserhöhung erreicht. Eine Verkäuferin oder ein Großhandelskaufmann hat am Ende der Laufzeit des Tarifvertrags monatlich 400 Euro mehr in der Tasche. Und wir haben die Altersvorsorge sowohl im Einzelhandel als auch im Groß- und Außenhandel deutlich steigern können. Damit haben wir einen wichtigen Schritt gegen Altersarmut getan.

Am Ende bleibt für viele Beschäftigte trotzdem ein Reallohnverlust, wenn man sich die Inflationszahlen insbesondere mit Blick auf die Lebensmittelpreise und die Lohnentwicklung seit 2020 anschaut.

Der vorherige Tarifabschluss ist im Mai 2023 ausgelaufen. Was wir jetzt erreicht haben, ist, dass eine Verkäuferin im Mai 2025 14 Prozent mehr im Portemonnaie hat. Für jemanden, der in Vollzeit beschäftigt ist und bislang brutto 2832 Euro bekommen hat, ist das eine ordentliche Verbesserung.

Interview

Silke Zimmer ist Mitglied im Bundesvorstand der Gewerkschaft Verdi, leitet den Fachbereich Handel und ist zuständig für die Bereiche Frauen-, Gleichstellungs- und Genderpolitik.

Sind Sie also gestärkt aus dieser Tarifrunde herausgegangen?

Auf jeden Fall. Unsere Kolleginnen und Kollegen haben diese Streiks selbst organisiert. Sie haben sich ermächtigt. Wir haben eine Streikbewegung erlebt, wie wir sie bislang im Handel noch nicht kannten. Uns ist es vielerorts gelungen, Lagerstandorte zu bestreiken. Dadurch wurden die Streiks auch wahrnehmbar für die Kundinnen und Kunden, weil eben nicht alle Waren verfügbar waren. Dass das gemessen an der Größe unserer Branche mehr sein könnte, ist überhaupt keine Frage. Aber was wir erreicht haben, hat das Selbstbewusstsein der Kolleginnen und Kollegen gestärkt. Wir waren ja noch nie mit so vielen gemeinsam auf der Straße. Die Menschen haben sich nicht entmutigen lassen. Dass wir uns nicht in allen Punkten durchsetzen konnten, haben Tarifabschlüsse an sich.

An welchen Stellen haben sich die Arbeitgeber quergestellt?

Die Kolleginnen und Kollegen haben mit ihren Aktionen und Streiks um jeden Cent gerungen. Eigentlich hätte man nach den extremen Preissteigerungsraten davon ausgehen müssen, dass die Arbeitgeber die Notwendigkeit zu Lohn- und Gehaltserhöhung unmittelbar einsehen. Stattdessen haben wir massive Gegenwehr in den Betrieben erlebt. Zum Teil sind Kolleginnen und Kollegen fristlos gekündigt worden, teilweise hat es Streikbruchprämien gegeben. Man hat die gesamte Klaviatur gespielt.

In der Tarifauseinandersetzung haben Sie die geschlechtsspezifische Dimension des Konflikts betont, vor allem im Einzelhandel. War es ein feministischer Kampf?

Ob die aktiven Kolleginnen das selbst als eine feministische Auseinandersetzung betiteln würden, sei mal dahingestellt. Aber sie waren sehr entschlossen und sind über sich hinausgewachsen. Fakt ist: Der überwiegende Teil der Beschäftigten im Einzelhandel sind Frauen. Und Frauen verdienen in Deutschland nach wie vor weniger als Männer. Der Gender-Pay-Gap, die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern, liegt bei 18 Prozent. Das hat unterschiedliche Ursachen, sei es wegen unterbrochener Erwerbsbiografien oder weil Frauen nach wie vor mehr unbezahlte Sorge-Arbeiten übernehmen. Im Einzelhandel erhält zudem kaum jemand noch eine Vollzeitbeschäftigung. Etwa zwei Drittel sind in der Branche entweder geringfügig oder in Teilzeit beschäftigt. Das hat auch seine Ursache in den verlängerten Öffnungszeiten. Dann habe ich kaum eine Chance, dass ich von meiner Arbeit leben kann, bin gegebenenfalls gezwungen, auch einen zweiten oder dritten Job anzunehmen. Auch dass Beschäftigte einen Arbeitsvertrag mit 22 oder weniger Wochenstunden haben, aber tatsächlich immer mehr arbeiten, hat massiv zugenommen. Deswegen haben wir in einigen Tarifgebieten durchgesetzt, Regelungen zu schaffen, dass Menschen, die dauerhaft mehr eingesetzt werden als in ihrem Arbeitsvertrag vereinbart, auch Anspruch auf die höhere Arbeitszeit haben. Denn Arbeitsverträge mit viel zu wenig Stunden sind auch eine Ursache dafür, dass das Geld bei vielen Kolleginnen nicht ausreicht und sie entweder mit Sozialleistungen aufstocken müssen oder aber dass sie keine auskömmliche Rente erwirtschaften können und von Altersarmut bedroht sind.

Das liegt auch daran, dass die Tarifbindung in der Branche gering ist.

Darum fordern wir, dass unsere Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden, um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Und damit der Verdrängungswettbewerb, der im Handel tobt, nicht auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird.

Dagegen wehren sich die Unternehmen und sagen, die Branche stehe wirtschaftlich unter Druck.

Es ist ja so, dass bis zum Jahr 2000 die Tarifverträge im Handel allgemeinverbindlich waren, und in diesem Jahr ist in Bayern der Manteltarifvertrag für den Großhandel wieder für allgemeinverbindlich erklärt worden. Aber ja, die Arbeitgeberseite wehrt sich dagegen. Wir werden nicht lockerlassen. Eine Branche wie den Handel, mit mehr als vier Millionen Beschäftigten, darf man nicht dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Aus unserer Sicht ist es ein Angriff auf unsere sozialen Sicherungssysteme, wenn Menschen nicht von ihrer Arbeit leben können oder von Altersarmut bedroht sind. Da ist gesellschaftliche Verantwortung gefragt, und diese müssen Unternehmen in Deutschland wahrnehmen.

Wie geht es nun weiter?

Es ist uns gelungen, dass wir im Großhandel Verhandlungsverpflichtungen mit den Arbeitgebern vereinbaren konnten, etwa zu den Zukunftsthemen wie der Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz und ihre Auswirkungen auf die Beschäftigten. Da geht es für uns um eine nachhaltige Qualifizierung der Beschäftigten, aber auch um die Fachkräftebindung und -gewinnung. Und wir wollen, dass die betriebliche Altersvorsorge verpflichtend wird. Ziel ist es, eine gemeinsame Pensionskasse aufzubauen. Diese Herausforderungen werden wir in diesem und im nächsten Jahr aktiv angehen.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -