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Händels »Messias« an der Komischen Oper: Szenischer Unfall
Mit Georg Friedrichs Händels Oratorium »Messias« hat die Komische Oper Berlin am Wochenende die neue Spielzeit eröffnet
Wer den größten Quark sehen will, der seit Langem auf Berlins Bühnen dargeboten wurde, der oder die muss in den Hangar 4 des ehemaligen Flughafens Tempelhof pilgern, wo die Komische Oper in einer missglückten Inszenierung Händels Oratorium »Messias« aufführt. Entschädigt werden die Zuschauer*innen durch wunderbare Musik, die auf höchstem Niveau gespielt wird.
Händels Oratorium, im Sommer des Jahres 1741 in nur 24 Tagen komponiert (allerdings wie seinerzeit üblich auch unter Zuhilfenahme früherer Stücke, darunter seiner italienischen Duettkantaten), entstand an einer Weggabelung im Schaffen des Komponisten, in Halle/Saale geboren, seit Jahrzehnten in London lebend und seit 1727 aufgrund eines eigens für ihn entworfenen Gesetzes englischer Staatsbürger. Die Jahrzehnte der großen Opernerfolge neigten sich dem Ende zu, die Barockoper war in der Krise, was auch für Händel schmerzliche Konsequenzen hatte. 1737 ging das von ihm in eigener Regie und auf eigene finanzielle Verantwortung geleitete Opernunternehmen Covent Garden Theatre bankrott; parallel erlitt Händel einen schweren Schlaganfall.
Zwar unternahm Händel noch weitere Versuche, im Opernfach zu reüssieren, wandte sich aber seit 1739 zunehmend dem Oratorium zu. So entstand auch »Messias« nach einem Libretto des Großgrundbesitzers, Mäzens und Librettisten Charles Jennens, im Wesentlichen eine Zusammenstellung ausgewählter Bibelstellen.
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Stefan Zweig hat der Entstehung des »Messias« ein Kapitel seiner »Sternstunden der Menschheit« gewidmet und es »Georg Friedrich Händels Auferstehung« genannt. Zweig beschreibt etwas pathosgesättigt zweierlei: nicht nur Händels Erholung von seinem Schlaganfall und die Komposition eines seiner nachhaltigsten Werke wie in einem Rausch, sondern auch die späte Hinwendung des Komponisten vom Starautor der italienischen Oper, der Opera seria, zum englischen Oratorium. Heute würde man eher sagen, dass sich Händel »neu erfunden« habe und nicht »auferstanden« sei.
Der »Messias« besteht aus drei Teilen, hier dargestellt im Rückgriff auf die Analyse von Nikolaus Harnoncourt:
1. Ankündigung und Plan zur Erlösung durch den Messias: vom Versprechen Jesajas bis hin zur Vision der Hirten und Christi Leben auf der Erde.
2. Passion: Zurückweisung des Messias/Niederlage der Aufbegehrenden: Das auskomponierte Kreuzsymbol, ein klingendes »Ecce Homo« samt der enttäuschenden Reaktionen der Menschen; die Peiniger und der Pöbel; die Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit; schließlich die Verbreitung des Evangeliums, die Zerschlagung der Gegenwehr und der Triumph.
3. Dankhymnus für die Überwindung des Todes, der der anglikanischen Begräbnisliturgie folgt: Tod und Sünde versus Auferstehung und Leben; Wirkung des Erlösers auf den Einzelnen – Gott schützt alle; Schlussanthem.
Nun enthalten Text und Musik des »Messias« keine Geschichten, es wird keine Handlung erzählt. Vielmehr geht es um eine Reihe von Kontemplationen über die christliche Erlösungsidee, die durchaus auch weitergefasst und ohne Rückgriff auf das Christentum als universale Botschaft verstanden werden kann, etwa als eine umfassende Friedensbotschaft an die Menschheit.
So fragt der Solist in der Bass-Arie im zweiten Teil: »Why do the nations so furiously rage together, and why do the people imagine a vain thing?« (»Warum rasen die Völker so wütend, und warum reden die Menschen vergebliches Zeug?«), und der Chor antwortet: »Let us break their bonds asunder, and cast away their yokes from us« – »Lasst uns ihre Bande zerbrechen und ihr Joch von uns abwerfen«! Das ist fast schon eine revolutionäre Aussage, die Fesseln, das Joch endlich loswerden. Und diese Aufforderung ist es, auf die just Händels Smash-Hit »Hallelujah« folgt. Ein Hit, den wir möglicherweise Händels Laxheit in Fragen geistigen Eigentums zu verdanken haben, um es lächelnd mit Brecht zu sagen, denn Henry Purcell hatte bereits vierzig Jahre zuvor in einer Bühnenmusik zu Shakespeares »Sturm« einen sehr ähnlichen »For ever, for ever«-Chor geschrieben.
Händel, für den der Wechsel von Deutschland nach England laut Ulrich Schreiber »so etwas wie der Sprung aus dem Mittelalter in die Neuzeit« war, begriff das englische Oratorium als eine Möglichkeit zur »Verbreitung einer fortschrittlichen, eben humanistischen und demokratischen Botschaft«, das er als Vehikel einer für ein möglichst breites Publikum verständlichen Volkskunst durchsetzt. Karl Marx schrieb aus Gründen von der »ausgesprochen revolutionären« Musik Händels.
Es geht hier allgemein um eine gute Zukunft und um Trost, um Gemeinschaftsgefühl und menschliche Spiritualität. »Comfort ye, comfort ye My People« (»tröste dich, mein Volk«) heißt es da, oder »Ev’ry valley shall be exalted, and ev’ry mountain and hill made low« (»Jedes Tal soll erhöht werden, und jeden Berg und Hügel macht flach«). Händel ist Protagonist der Aufklärung, die im Englischen so schön als »Enlightenment« bezeichnet wird.
Leider allerdings: Nichts davon ist in der Inszenierung des italienischen Regisseurs Damiano Michieletto zu sehen oder zu spüren. Michieletto hat in einer Zeitung die tragische Geschichte von Brittany Maynard gelesen, die im Alter von 29 Jahren erfuhr, dass sie aufgrund eines Hirntumors noch sechs Monate zu leben hatte, und sich für einen ärztlich assistierten Suizid entschied und massive Angriffe, etwa von Lebensschützern, erdulden musste. Eine auf vielen Ebenen traurige Geschichte – die allerdings nicht nur »auf den ersten Blick nichts mit den Psalmen des Librettos zu tun hat«, wie Michieletto im Programmheft zu Recht selbst bekennt, sondern auch auf den zweiten, dritten, fünften oder zwanzigsten Blick nicht. Der Regisseur hat diese Geschichte einfach Händels »Messias« aufgestülpt, sie dem Oratorium gewissermaßen aufgezwungen. Sinn ergibt das nicht, im Gegenteil, es führt zu allerlei absurden Szenen. Die Sopranistin etwa, die im Widerspruch zur Partitur eine Ärztin im weißen Kittel zu spielen hat, überreicht der Schauspielerin, die Michieletto hinzuerfunden hat und die die Frau mit dem Gehirntumor spielen muss, die Röntgenaufnahme des CT mit dem Todesurteil und singt dazu die fröhliche Arie »Rejoice greatly«, in der es heißt: »Freue dich sehr, Tochter Zions, jauchze, o Tochter Jerusalems.« Zu dieser Szene wird ein CT-Gerät auf die Bühne gerollt, die Schauspielerin legt sich hinein, die Ärztin schließt einen Ring über deren Kopf, der je nach Gemütslage der Zusehenden als eine vorweggenommene Dornenkrone der kommenden Passionsgeschichte oder als Heiligenschein interpretiert werden kann.
Auch an anderen Stellen ist diese Inszenierung weder vor hohlem Pathos noch vor banalem Kitsch gefeit. Ob sich in der kleinen Flasche, die in einer feierlichen Prozession wie eine Kerze in die Mitte der Bühne auf einen Tisch gebracht wird, schmerzlinderndes Morphium oder das erlösende Gift zur Sterbehilfe befindet, vor dem sich die Krebskranke anbetend niederlegt, bleibt unklar. Aber ob dies ausgerechnet mit jubelndem D-Dur-Gesang begleitet werden muss?
Oder das einigermaßen banale Motiv des kleinen rötlichen Flugdrachens (vielleicht gar ein subtiles Productplacement des zeitgleich zur Premiere gegenüber auf dem Tempelhofer Feld stattfindenden Drachenfests?), zu dem im ersten Teil die Sänger vergebens hochspringen, um ihn zu erhaschen – während die Schauspielerin diesen Drachen im dritten Teil plötzlich fröhlich schwingend wie bei einem olympischen Fackellauf in hohem Tempo um den Chor, also das »Volk«, herumträgt. Endlich wird das Tor – ein helles, weißes Licht, das ins Jenseits führt; klar, der Regisseur geht wirklich keinem noch so kitschigen Motiv aus dem Weg – geöffnet, der Chor singt »Würdig ist das Lamm, das erschlagen wurde«, und die Krebskranke, zum Lamm degradiert, rennt hinaus. So werden wir alle – sie, der Chor, das Publikum – schließlich doch noch erlöst. Dann regnet es plötzlich von oben, während der Chor zur »Ehre, Ruhm und Stärke« dessen, »der auf dem Thron sitzt«, singt und Rasenstücke hereinträgt und auf die Bühne legt. Selbst der Himmel muss also weinen angesichts dieser misslungenen Inszenierung.
Allerdings – musikalisch ist dieser »Messias« ein weitgehend glücklich machender Triumph. Dies ist vor allem ein Verdienst des versierten Dirigenten George Petrou, der das Orchester der Komischen Oper in bester »historisch informierter« Spielpraxis gerne in zügigen Tempi durch die Partitur leitet. Aber auch des Chorleiters David Cavelius, dem es auf beeindruckende Weise gelungen ist, die Chorsolisten der Oper (denen natürlich die virtuoseren Nummern vorbehalten bleiben) mit den etwa 300 Sänger*innen des »Projektchors«, der sich aus verschiedenen Kirchen- und Amateurchören sowie Sänger*innen aus Berlin zusammensetzt, zu einem sanges- und spielkräftigen Ensemble zu verbinden, das auch die kontrapunktischen Tiefen der Chornummern hervorragend bewältigt. Wie schön, dieses gemeinsame Musizieren von Profis und Amateurmusiker*innen erleben zu dürfen!
Mitunter wünscht man sich freilich doch die schmale Besetzung der Uraufführung herbei, mit damals gerade einmal 32 Sängern (absichtlich nicht gegendert, weil es seinerzeit tatsächlich ausschließlich Knaben waren, je 16 für den Sopran und für die drei anderen Stimmlagen). Gerade das »Hallelujah« gerät mit den vielen Sänger*innen doch unnötig breit und pathetisch, und grundsätzlich besteht bei so vielen Sänger*innen das Problem, dass Alt und Bass zugunsten der hohen Stimmlagen etwas untergehen. Man höre zum Vergleich die weniger muskulöse und dennoch (oder gerade deswegen?) fesselnde und glänzende Version von Harnoncourt.
Doch gerade die Bewegungen des Chors sind gut choreografiert, etwa wenn die Hände gemeinsam in die Höhe gehen und sich den Akteuren zuwenden oder wenn die Sänger*innen sich um das Podest versammeln – was allerdings auch ein wenig wie die Choreo zum Bejubeln eines Champions-League-Gewinners wirkt. Fehlt nur das Konfetti. Aber das sind wohl Kompromisse, die eingehen muss, wer ein Oratorium wie den »Messias« im großen Hangar des Tempelhofer Flughafens aufführen möchte. Dem Eventcharakter einer derartigen Veranstaltung könnte auch ein besserer Regisseur kaum aus dem Weg gehen.
Herausragend Julia Grüter mit ihrem wunderbar leuchtenden Sopran. Der Tenor Julian Behr begann stark mit dem eindrucksvollen »Comfort ye«, verlor danach allerdings ein wenig an Wirkung. Bassist Tijl Faveyts beherrschte seine Partie, ohne zu glänzen. Die schönste Arie durfte die Altistin Rachael Wilson singen: »He was despised and rejected of men« (»Er ward verachtet und von den Menschen zurückgestoßen«), eines der herrlichsten Stücke Händels, das zehn Minuten lang von einem verzweifelten »Menschen der Schmerzen, erfüllt mit Gram« handelt.
Hier zeigte sich, was eine Inszenierung vermocht hätte, die an den schönen englischen Text und die wundervolle Musik Händels tatsächlich glauben würde: Von der Decke wird eine riesige, 840 Kilogramm schwere LED-Ellipse herabgelassen, und an deren Rand singt die von allen verlassene Altistin traumverloren »eines der innigsten und emotionalsten Stücke, das die Vokalmusik hervorgebracht hat«, wie der musikalische Leiter George Petrou zu Recht meint. Ein eindrucksvolles Bild. Es ist ja alles in der Musik enthalten, es geht um Liebe, um Frieden, um Hoffnung und Erlösung. Es gibt keinen Grund, um des banalen Effekts willen eine Geschichte hinzuzuerfinden.
Nächste Vorstellungen 25., 27. und 28.9.
www.komische-oper-berlin.de
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