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»Geliebte Mutter – Canin Annem«: Es bleiben nur die Kinder

Ein Roman über die Gewaltverhältnisse im Wirtschaftswunderland

  • Frédéric Valin
  • Lesedauer: 6 Min.
Man »zog in die Ferne – ins Paradies / Und das liegt irgendwo bei Herne«, wie schon Franz Josef Degenhardt gesungen hatte.
Man »zog in die Ferne – ins Paradies / Und das liegt irgendwo bei Herne«, wie schon Franz Josef Degenhardt gesungen hatte.

Eltern, so steht es schon bei Aristoteles, haben eine absolute Verantwortung für das Leben ihrer Kinder; schließlich haben sie sie ohne deren Einverständnis auf die Welt gebracht. Dieses inzwischen schon zur Binse kondensierte Bild von Eltern- und besonders von Mutterschaft hat über die Jahrtausende zu einer Ideologie der Familie als Keimzelle der Gesellschaft beigetragen, was schon Leo Tolstoi literarisch so übersetzte: »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.« Inzwischen auch eine Binse, aber eine, die auch heute noch nicht nur literarisch, sondern auch gesellschaftlich und politisch große Wirkmacht hat.

Diese Verantwortung, die den Eltern zugeschrieben wird, ist auch in einem liberal-bürgerlichen Freiheitsbegriff begründet, dem die Annahme zugrunde liegt, dass es eine Wahl gibt. Was aber, wenn die Eltern – und insbesondere die Mutter – gar keine Wahl gehabt haben?

Aynur ist 19, als um ihre Hand geworben wird. Sie ist eine verträumte, eigensinnige junge Frau, aufgewachsen in einem liberalen Milieu in der weltzugewandten Ecke Istanbuls. Ihr Bruder, der eine Karriere in der Politik anstrebt, sucht ihr einen Mann aus: Alvin, der nach Deutschland ausgewandert ist. Alvin stammt vom Land, die Familie ist streng gläubig, er hat feste Vorstellungen davon, was ein Mann ist und was eine Frau und was sie füreinander zu sein haben. Er ist ein »mittelloser Dorftrottel«, denkt Aynurs Mutter, als sie ihn das erste Mal sieht. Seine Liebe zu Aynur ist so archaisch wie sein Traum vom Aufstieg modern ist: Dieses zarte, kluge, eigensinnige Wesen soll ihm gehören, dann hat er es geschafft. »Wie ein hungriger Hund« schaut er drein, wenn er die Schaufenster der großen Geschäfte betrachtet, aber auch wenn er in das errötende Gesicht seiner Verlobten sieht. Es ist der gleiche Blick: der Blick eines Mannes, der etwas werden will.

Die Hochzeitsnacht wird für Alvin ein Triumph, für Aynur eine Tortur. Nachdem er fertig ist, schläft er so tief, »er hätte auch tot sein können, wie eine Fangschrecke, die nach dem Sex stirbt«. Es wird der Höhepunkt seines Lebens sein.

Er holt Aynur nach Herne, wo er unter Tage schuftet für das Wirtschaftswunderland. Das Geld reicht nicht für eine eigene Wohnung, also wohnen sie mit dem Vater und dem Bruder in einer Bruchbude; draußen rauchen die Schlote, drinnen die Männer. Aynur wird traurig und schwanger, und dann passiert es das erste Mal: Alvin, unzufrieden mit ihrer Unzufriedenheit, schlägt sie. Schlägt sie so sehr, dass sie eine Fehlgeburt erleidet. Sie werden später Kinder bekommen, Ada und Meryem. Auch sie wird er schlagen; er wird, nachdem er arbeitslos geworden ist und stattdessen spielsüchtig, ihnen auch das Geld stehlen, dass sie sich erarbeiten durch Zeitungsaustragen.

Seinen Niedergang federt nur ein Konstrukt ab: die Familie, vor allem die Mutter. Aynur, die inzwischen selbst in einer Fabrik arbeitet und zu Hause auch bisweilen die Kinder schlägt, jedenfalls auch nicht dazwischengeht, wenn der Vater gewalttätig wird, ihn nicht verlässt, all die Jahre über nicht – sie wird ihn anzünden wollen zwischendurch, aber am Ende wird sie sagen, dass er kein schlechter Mensch gewesen ist, nur überfordert.

Und sicher war er überfordert, aber wovon? Von seinen Träumen, von seinen Ideen? Und sicher war sie auch überfordert, von ihrem Ausgeliefertsein, von ihrem Mangel an Optionen. Wenn sie nach Hause schreibt, sind es von Anfang an Hilferufe, aber auch Aynurs Großeltern wissen nicht, wie ihr zu helfen ist; stattdessen sterben sie an Gram.

Es bleiben für Aynur die Kinder. Sicher waren auch sie überfordert, diese Kinder, die kaum Kinder sein durften: die Mutter zum Amt begleiten mussten, um zu übersetzen, dem Vater Geld in die Hand drücken, zwischendurch noch ganz allein mit rassistischen Lehrer*innen zurechtkommen und auf dem Schulhof sowieso. Die Einsamkeit einer solchen Kindheit nichtsdestotrotz nicht als Schicksal zu begreifen, sondern trotzdem glaubhaft zu machen, dass zumindest Meryem ihre Eltern liebt, ist herzöffnend. Es geht hier nicht um Analyse, sondern um Verständnis, und am Ende haben beide Kinder recht: Ada, der sich zwar nie outet, aber dessen Abkehr von allem, was Familie ist, für sich spricht, und Meryem, die beiden Eltern in ihrem Ende die Hand zu reichen imstande ist.

Çiğdem Akyol hat einen enorm dichten Roman geschrieben, der die Analysen hinter sich lässt, weil in jedem Absatz sich eine neue Zumutung verbirgt: Die Liebe, die Meryem zu ihrer Mutter empfindet, die so vielschichtig wie unerklärbar ist, kann nur erzählt werden, nicht analysiert. Wäre die Geschichte aus Sicht ihres Bruders Ada geschrieben, der sich unter Schmerzen von der Familie gelöst hat, hätten wir vielleicht ein Eribon-Nachfolgebuch. Aber Çiğdem Akyol geht es nicht um einen haushalterischen Zugang, um irgendeine Art der Bilanz. Es ist keine Abrechnung, die sie geschrieben hat, sondern eine Liebeserklärung: eine Erklärung dafür, warum Meryem ihre Mutter liebt (und schlussendlich dem Vater auch verzeiht). Literatur kann Umstände erzählen, die nicht erklärbar sind, und eben das macht sie tröstlich, macht sie fähig dazu, Trost zu spenden.

Dieser Trost ist aber nicht beliebig. Ihm liegt eine gesellschaftliche Analyse zugrunde, die, gerade weil sie nicht ausbuchstabiert wurde, hochpolitisch ist. Meryems Großvater Sabrî fängt sie, als sie mit einem gebrochenen Zeh nach Hause schleichen will, ab und lädt sie zu einer Cola ein. Als sie anfängt, ihm Fragen zu stellen, sagt er – mehr aus Überforderung als aus Draufsicht: »Es gibt drei Kategorien von Menschen: die, die mit dem goldenen Löffel im Mund auf die Welt gekommen sind. Die, die nichts geschenkt bekommen. Und uns: die, die sich fern der Heimat für das wenige, was sie wollen, alles gefallen lassen müssen. Wir werden nur geduldet, weil sie von uns profitieren.«

Dieser Roman ist auch unerbittlich: Meryem, als sie erwachsen ist, kann nicht lieben, bis sie in einem türkischen Foltergefängnis einen inhaftierten Soziologieprofessor kennenlernt, den sie dort verbotenerweise auch küsst. Andere Romane hätten damit geendet, wie sie ihm sich hingibt: Doch Meryem lässt ihn schlicht zurück, als es eng wird. Ihrem Vater aber reicht sie die Hand, als er stirbt, obwohl er nichts als Pein für sie war. Vielleicht ist es andersrum: Kinder haben viel mehr Verantwortung für ihre Eltern, weil sie ihr Andenken so lange mit sich herumtragen. Aber selbst wenn, dann müssen sie darüber nicht bitter sein.

Çiğdem Akyol: Geliebte Mutter – Canin Annem. Steidl, 192 S., geb., 24 €.

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