Ganztägige Bildungsangebote ausbauen!

Das Halbtagsschulsystem benachteiligt manche Kinder und setzt Angehörige unter Druck

  • Tim Engartner
  • Lesedauer: 5 Min.
Nach 14 Uhr gibt es für Schulkinder nur noch in Ausnahmefällen Bildungsangebote.
Nach 14 Uhr gibt es für Schulkinder nur noch in Ausnahmefällen Bildungsangebote.

»Wer viel fragt, kriegt viel Antwort«, heißt es im Volksmund, um die Vorzüge des Schweigens zu illustrieren. Wollen wir uns bilden, ist (Hinter-)Fragen aber genau der richtige Weg. Dazu braucht es Zeit, Kommunikation und Freude am Lernen. Ohne diese strukturelle Triade kommt kein Bildungsprozess aus. Wer aber liefert diese Struktur, wenn Eltern, Verwandte und Geschwister mangels Bildungsnähe den Lernprozess nicht begleiten (können)? In Deutschland ist dies nach wie vor viel zu selten die Schule, die nach 13:15 Uhr beziehungsweise 14 Uhr nur in Ausnahmefällen Bildungsangebote vorhält.

Bildung ist Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe

Das Halbtagsschulsystem benachteiligt Kinder aus sozioökonomisch schwächeren Familien, diskriminiert diejenigen von ihnen, die ihre mangelhaften deutschen Sprachkenntnisse beheben wollen beziehungsweise sollen und vergeht sich familien- und sozialpolitisch an denjenigen, die aus schwierigen familiären Verhältnissen kommen und jede institutionelle Unterstützung zur Gestaltung eines gelingenden Lebens brauchen.

Schließlich ist Bildung seit der Allgemeinen Erklärung der Menschrechte im Jahre 1948 ein menschliches Grundrecht. Da Bildung die zwingende Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe ist, sollte der Zugang zu ihr idealiter für niemanden und zu keinem Zweck eingeschränkt werden – erst recht nicht in einem reichen Land wie Deutschland. Dies gilt umso mehr, als Bildung ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht, die Teilhabe am kulturellen Leben, die Mitwirkungsmöglichkeiten zur Gestaltung unserer Gesellschaft anbahnt und das individuelle Wohlergehen in besonderer Weise grundlegt. Dessen ungeachtet versäumen es selbst die einflussreichen (bildungs-)politischen Player wie Stiftungen, Thinktanks und Unternehmen, auf eine qualitativ hochwertige Ganztagsbetreuung zu drängen – und sei es nur, um den bundesweit beklagten Fachkräftemangel zu beheben. Dabei hat schon Nelson Mandela die Wirkmächtigkeit von Bildung in prägenden Worten verdeutlicht: »Bildung ist die mächtigste Waffe, die du verwenden kannst, um die Welt zu verändern.«

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Ganztagsbetreuung als Hebel für Gleichberechtigung

Wollen wir unsere (Bildungs-)Welt zum Besseren verändern, bildet die flächendeckende Ganztagsbetreuung an Schulen den größtmöglichen Hebel. Männern und Frauen könnte endlich ein gleichberechtigter Zugang zum Arbeitsmarkt gewährt werden. Der flächendeckende Ausbau einer ganztägigen Betreuungsinfrastruktur mit qualifizierten Bildungsangeboten – bestenfalls von Lehrkräften angeleitet, die die Kinder und Jugendlichen aus dem Unterricht kennen – ist überfällig. Aber nach wie vor fällt schon am Vormittag viel zu viel Lernzeit aus. Auf dem Weg zum Abitur verlieren Abiturientinnen und Abiturienten aufgrund von Unterrichtsausfall ein ganzes Schuljahr.

Zudem kommt der Ausbau des Ganztagsschulsystems, der erwiesenermaßen auch den besten Hebel darstellt, um besser auf die individuellen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler eingehen zu können, seit Jahren nur schleppend voran. Der Offene Ganztag bedeutet heutzutage für gewöhnlich Unterricht am Vormittag mit anschließender Beaufsichtigung durch unzureichend qualifizierte und schlecht bezahlte Hilfskräfte. Auch Ehrenamtliche und freie Träger übernehmen die Begleitung der Kinder. In den Ferien – immerhin rund ein Viertel des Jahres – läuft meist gar nichts. Notwendig aber wäre ein selbstverständlicher Ganztagsunterricht, in dem sich Lernen und Freizeit abwechseln. Nur so würde im Übrigen auch das für Eltern zermürbende Jonglieren zwischen Stunden- und Schichtplänen beendet. Und wie sollen Doppelverdienende mit einem individuellen Urlaubsanspruch von durchschnittlich 28 Tagen ihre Kinder während der mehr als zwölf Wochen Schulferien betreuen (lassen), wenn sie ihren Urlaub wenigstens teilweise gemeinsam verbringen wollen? Dieses selbst bei den Pisa-Bildungssiegern existierende Problem gehört dringend in den Blick genommen.

Desintegration durch kommerzielle Nachhilfe

Um die in vielen Elternhäusern auftretenden Unzulänglichkeiten in Sachen Bildung und Erziehung in den Griff zu bekommen, müssen Kinder und Jugendliche über den vormittäglichen Pflichtschulkontext hinaus im Einklang mit pädagogischen Qualitätsmaßstäben betreut werden. Gegenwärtig wird die Desintegration schulischer Bildung auch dadurch befördert, dass immer häufiger (kommerzielle) Nachhilfeanbieter die Schulbildung nach Schulschluss für all jene übernehmen, die ergänzenden Bildungsbedarf haben – und es sich leisten können. Inzwischen erhält jeder vierte Schüler und jede vierte Schülerin private Nachhilfe.

Mit dem 2021 verabschiedeten Gesetz zur ganztägigen Förderung von Kindern im Grundschulalter, das einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder ab dem Schuljahr 2026/27 vorsieht, wird sich der Trend zum Ausbau dieser Angebote voraussichtlich verstärken – obgleich das Beispiel des Rechts auf einen Kitaplatz verdeutlicht, dass rechtliche Vorgaben nicht zwangsläufig ihre Entsprechung im Ausbau der öffentlichen Infrastruktur finden, gibt es doch noch immer etliche Kinder, die einen solchen Kitaplatz nicht erhalten (haben). Zwar lassen die in Aussicht gestellten Investitionen des Bundes in den Ausbau der notwendigen Infrastruktur von bis zu 3,5 Milliarden Euro hoffen. Aber nach wie vor könnte die von der Ampel-Regierung verfolgte Austeritätspolitik dieses wichtige Instrument zur Abmilderung sozialer Herkunftseffekte zum Erliegen bringen.

Gesetz verspielt Chance für rhythmisierten Schultag

Unabhängig davon besteht auch nach der Neuregelung noch die Problematik, dass vormittags an der Schule unterrichtende Lehrkräfte und nachmittags tätige pädagogische Fachkräfte sich nur an wenigen Schulen im Rahmen eines Abstimmungs- und Übergabeprozederes verständigen. Es wundert nicht, dass sich für die Nachmittagsbetreuung auch weiterhin kaum (ausreichend qualifiziertes) Personal finden wird, denn wer will schon einen zumeist schlecht bezahlten Nachmittagsjob zwischen 13 und 17 Uhr ausüben? Trotz der von niemandem geleugneten Misere der Ganztagsbetreuung verspielt die Politik auch mit den neuen gesetzlichen Vorgaben nicht nur die Chance, ein Konzept für einen nach pädagogischen Prinzipien rhythmisierten Schultag zu platzieren. Regelungen zu verbindlichen Kooperationszeiten zwischen Lehrkräften und pädagogischem Personal finden im Gesetz nach wie vor ebenso wenig Berücksichtigung wie Tariftreuevorgaben.

Dies ist fatal, denn wir verweigern uns damit der Einsicht, dass die Schule nicht nur als »Haus des Lernens« betrachtet werden darf, sondern als zentraler Erfahrungs-, Schutz- und Sozialisationsraum Anerkennung finden muss.

Das neue Buch von Tim Engartner, »Raus aus der Bildungsfalle. Warum wir die Zukunft unserer Kinder gefährden« (240 Seiten, 18,99 Euro), ist diese Woche im Westend-Verlag erschienen.

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