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Im Zentrum eines Psycho-Kriegs
Die Angehörigen der Geiseln müssen vieles ertragen – sogar Angriffe aus dem rechten israelischen Lager
Keine Zeit, keine Antwort. Sie sind immer in Eile, immer auf der Hut, immer auf dem Weg zur nächsten Demonstration, zum nächsten Meeting mit Diplomaten, Politikern, Journalisten, je größer die Agenturen, die Sender, desto besser. Wie viele sie sind, kann niemand genau sagen: Eltern, Geschwister, Freunde, Großeltern, Onkel und Tanten der Geiseln; Linke, Rechte, Arme, Reiche, deren Wege sich am 7. Oktober 2023 zwangsweise vereinten.
Irgendwann am frühen Morgen dieses Tages berichteten die ersten Medien, Hamas-Terroristen hätten den Grenzzaun zwischen dem Gazastreifen und Israel durchbrochen; von Dutzenden, später Hunderten, am Ende mehr als 1000 Toten war die Rede. Und von mehr als 200 Menschen, die in den Gazastreifen verschleppt worden waren.
Es war der Beginn eines Horrors, der auf vielen verschiedenen Ebenen wirkt. Der Krieg, die Zerstörung im Gazastreifen ist eine davon. Der Gedanke, dass das wohl schlimmste Pogrom seit 1945 ausgerechnet auf israelischem Boden verübt wurde, ist eine weitere. Und der Albtraum, nicht zu wissen, ob man den Angehörigen, die Freundin jemals wieder sehen wird, ist eine dritte.
Viele der Betroffenen haben sich in der Bürgerinitiative »Bring them home now« zusammengeschlossen. Dass man sich einen englischen Namen gab, liegt daran, dass die Hauptadressaten nicht nur in der israelischen Regierung, sondern vor allem auch in den Vereinigten Staaten und in Europa sitzen: Ein Deal, der die Verschleppten zurück nach Hause bringt, müsste vor allem anderen Priorität haben.
Einav Zangauker, die Mutter einer Geisel, wurde mit einem Messer bedroht und als »Staatsfeindin« und »Verbündete der Hamas« beschimpft.
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251 Israelis und ausländische Staatsbürger wurden während des Massakers in den Gazastreifen verschleppt. 109 Geiseln wurden im Oktober und November 2023 gegen 240 in Israel inhaftierte Palästinenser ausgetauscht. Sechs Geiseln wurden im Verlauf der vergangenen zwölf Monate vom Militär befreit; 37 wurden von der Armee tot geborgen.
Am Montag sagte Regierungschef Benjamin Netanjahu, ungefähr die Hälfte der einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters zufolge verbleibenden 101 Geiseln sei noch am Leben. Einav Zangauker, die Mutter des 25-jährigen Matan Zangauker, hält die Zahl dem Nachrichtenportal Times of Israel zufolge für zu hoch: Alle Familien erhielten Updates über Status und Lebenszeichen ihrer Angehörigen. »Es sind nicht mehr als 30 bis 35 Geiseln noch am Leben.«
Matan Zangauker lebte mit seiner Freundin Ilana Gritzewsky im Kibbutz Nir Oz direkt an der Grenze zum Gazastreifen. 38 der rund 380 Einwohner wurden während des Massakers ermordet, 78 wurden verschleppt.
Einige Tage nach dem Massaker begann das israelische Militär, Journalisten und Diplomaten einen Zusammenschnitt aus Bodycam-Aufnahmen der Terroristen und Überwachungsvideos zu zeigen: ein Video, dessen extremste Grausamkeit auch ein Jahr danach noch schwer im Magen liegt. Zu sehen sind Täter, die jede Form der Menschlichkeit verloren zu haben scheinen. An einer Stelle sieht man, wie zwei Kinder, schwer verletzt, um Hilfe flehen, während einer der Täter zum Kühlschrank geht, um sich ein Getränk zu holen. Das Schicksal der Kinder ist nicht bekannt.
Der 7. Oktober, das Bewusstsein dieser Grausamkeit, die Erkenntnis, dass auch Mauern, Zäune und modernste Überwachungstechnologie keine Sicherheit bieten, haben Israels Politik und Gesellschaft verändert. Während des Gazakriegs im Sommer 2014 hatte Netanjahu die Forderungen nach einer umfassenden Bodenoffensive gegen die Hamas noch vehement zurückgewiesen: zu viele Opfer auf beiden Seiten, hieß es damals und auch: zu groß der diplomatische Schaden. Nach dem 7. Oktober fiel diese Hemmschwelle, der Krieg begann. Zehntausende wurden im Gazastreifen getötet. Das Video wurde vom Tatbeweis zur Rechtfertigung.
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Und die Angehörigen und Freunde der Geiseln waren eine Zeit lang genehme Unterstützer, die zu den Vereinten Nationen mitreisten oder zur Europäischen Union in Brüssel, um dem israelischen Vorgehen in Gaza Legitimität zu verleihen. Denn lange Zeit hatte die Regierung zwei Kriegsziele ausgegeben: die Geiseln nach Hause zu bringen und die Hamas zu zerstören. Immer wieder erzählten Mütter wie Zangauker die Geschichten ihrer Kinder, von denen einige wirklich noch Kinder sind. Die jüngste Geisel war am 7. Oktober gerade mal ein Jahr alt. »Für viele von uns ist das so wie bei Entführungen in den USA: Die Eltern halten eine Pressekonferenz ab, um an die Menschlichkeit der Entführer zu appellieren«, sagt ein Vater, der anonym bleiben will. »Wir möchten im Stillen hoffen und trauern. Das Bild ständig irgendwo sehen zu müssen, würde alles noch viel schlimmer machen.«
Und die Geiseln, ihre Angehörigen stehen auch im Zentrum eines Psycho-Kriegs. Diejenigen, die bei »Bring them home« in vorderster Reihe mitmachen, haben lernen müssen, viel zu ertragen. Immer wieder gibt die Hamas den Tod von Geiseln bekannt, um dann doch ein Lebenszeichen zu senden. In Videos müssen Entführte erklären, dass sie sich von der israelischen Regierung alleingelassen fühlen. Vor einigen Wochen gab die Hamas zudem offen den Befehl aus, Geiseln zu töten, sobald sich israelische Soldaten nähern.
In Israel ist die Gesellschaft deshalb gespalten. Hunderttausende gehen auf die Straße, um von der Regierung zu fordern, mehr für die Freilassung der Verschleppten zu tun: Diese soll einem Waffenstillstand, einem Gefangenenaustausch zustimmen. Und Netanjahu soll die Forderung nach einer dauerhaften israelischen Truppenpräsenz im Philadelphi-Korridor entlang der ägyptischen Grenze aufgeben. Denn für die Hamas-Führung ist das eine rote Linie.
Doch der Regierungschef hält daran fest. Und viele im rechten Spektrum der israelischen Gesellschaft haben begonnen, die Angehörigen der Geiseln als Störfaktor im Hinblick auf ihr eigentliches Kriegsziel zu sehen: die Zerstörung der Hamas. Lauter werden mittlerweile auch die Forderungen nach einer Übernahme der zivilen Kontrolle in Gaza durch das Militär und sogar nach einem Wiederaufbau der 2005 geräumten israelischen Siedlungen dort.
Immer öfter schlägt den Angehörigen offene Feindseligkeit entgegen. Ende September wurde Eli Elbag, der Vater von Liri Elbag, am Rande einer Likud-Veranstaltung in Netanja mit Eiern beworfen. Die damals 18-jährige Liri Elbag hatte am 7. Oktober gerade ihren Militärdienst auf der Basis Nahal Oz begonnen. 66 dort stationierte Wehrdienstleistende wurden während des Massakers getötet, mit der gleichen Grausamkeit, der auch die Zivilisten zum Opfer fielen.
Er sei als »Krebsgeschwür für Israel« bezeichnet worden, sagte Elbag später. Einer der Likud-Aktivisten habe gar behauptet, Jahya Sinwar, der Gaza-Chef der Hamas, bezahle die Angehörigen der Geiseln für ihre Proteste. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehsender KAN sagte Elbag, er bekomme Drohbriefe, werde geschlagen und beschimpft.
Auch Einav Zangauker ist regelmäßig Ziel von Angriffen. Anfang September bedrohte ein Mann sie mit einem Messer. Am Rande einer Großdemonstration für die Freilassung der Geiseln wurde sie als »Staatsfeindin« und »Verbündete der Hamas« beschimpft. Schon Ende vergangenen Jahres wurde versucht, ein Zeltlager vor der Knesset in Jerusalem in Brand zu stecken.
Dabei argumentieren die Gegner von weiteren Gefangenenaustauschen auch mit der Vergangenheit. 2011 hatte Israel 1027 palästinensische Gefangene gegen Gilad Schalit ausgetauscht, einen Soldaten, der mehr als fünf Jahre lang von der Hamas festgehalten worden war. In der Öffentlichkeit wurde der Deal schon damals überwiegend als »Sieg für den Terror« gesehen, wobei man vor allem auf die insgesamt 569 Menschen schaute, die bei Terroranschlägen ums Leben gekommen waren, an denen die Freigelassenen beteiligt gewesen waren. Seit dem 7. Oktober richtet sich der Blick vor allem auf Jahya Sinwar, der damals ebenfalls freikam und federführend für das Massaker und die Verschleppung von über 250 Menschen verantwortlich ist.
Und damals wie heute war und bleibt das Dilemma: Die einen erwarten, dass sich der Einzelne für das Wohl der Gesamtheit opfert. Die anderen hingegen fordern, dass das Individuum Vorrang vor dem Kollektiv haben soll, egal wie hoch der Preis.
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