Eine Neuordnung des Nahen Ostens?

Ein Jahr nach dem 7. Oktober lässt Israel die Öffentlichkeit immer noch im Dunkeln über seine Ziele

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 8 Min.
Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu spricht auf der 79. Sitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen im UN-Hauptquartier in New York.
Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu spricht auf der 79. Sitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen im UN-Hauptquartier in New York.

Der 7. Oktober 2023 war ein Trauma für die israelische Gesellschaft, ein Schock, auch für die offizielle israelische Politik, der immer noch nicht überwunden worden ist. Das »schlimmste Massaker in der Geschichte Israels«, wie es bald genannt wurde, das für manche gar einem »Pogrom« gleichkommt, verfolge jeden jüdischen Israeli, sagt Gil Shohat, Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) in Tel Aviv, gegenüber »nd«. Es »zerbrach Gewissheiten«, weil sich plötzlich der als selbstverständlich angenommene Schutz der Menschen, garantiert durch den Staat, in Luft aufgelöst hatte. Bis heute weigere sich die Regierung, eine unabhängige Untersuchungskommission einzusetzen, die die Fragen rund um dieses Versagen beim Schutz der Grenzen und der Sicherheit beantworten könnte, erklärt Shohat.

Und das Massaker löste einen Krieg mit verheerenden Folgen im Gazastreifen aus. Rund 42 000 getötete Palästinenser stehen bis dato offiziell auf der Opferliste (siehe Kasten). Die medizinische Fachzeitschrift »The Lancet« veröffentlichte im Juli sogar die geschätzte Zahl von bis zu 186 000 Toten, die direkt oder indirekt, also durch Verhungern, Krankheiten etc., »auf den aktuellen Konflikt im Gazastreifen zurückzuführen« seien.

Fatale Selbstüberschätzung?

Die von Benjamin Netanjahu angeführte, extrem rechte israelische Regierung zögerte nicht lange mit den Kriegsvorbereitungen, denn: Der brutale Angriff von schwer bewaffneten Kämpfern palästinensischer Gruppen wie Hamas und Islamischer Dschihad und die Tötung von etwa 1200 Menschen sollte, konnte nicht ungestraft bleiben. Was dann folgte, sieht man heute: der längste Krieg in der israelischen Geschichte, gleich an mehreren Fronten, angefangen beim Gazastreifen, über das besetzte Westjordanland und den Libanon bis zum Jemen und nun vielleicht sogar gegen den Iran.

Ist das eine klassische Überdehnung des eigenen außenpolitischen Handlungsspielraums, eine fatale Selbstüberschätzung der eigenen Möglichkeiten oder die Grundlage für das, was vor allem seit Beginn der 1990er Jahre, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, federführend in US-amerikanischen Denkfabriken ausgebrütet wurde: eine Neuordnung des Nahen Ostens? Danach sieht es zumindest aus, insbesondere in den letzten Wochen, nachdem die israelische Armee in den Libanon einmarschiert ist, den Jemen bombardiert hat und nun einen Gegenangriff auf den Iran vorbereitet.

»Netanjahus Krieg endet in Teheran«

Das, was US-Regierungen in der Vergangenheit nur in Ansätzen und erfolglos versucht haben, unter anderem mit der mutwilligen Zertrümmerung staatlicher Strukturen im Irak oder auch mit der Forcierung einer Normalisierung der Beziehungen zwischen den arabischen Ländern und Israel, will jetzt Israel zustande bringen. So muss man manche Äußerung israelischer Politiker und die Kriegstaktik wohl lesen.

»Netanjahus Krieg endet in Teheran«, meinte vor ein paar Tagen bei Al-Jazeera Robert Geist Pinfold, Dozent für Frieden und Sicherheit an der britischen Universität von Durham, und bezog sich auf dessen fast schon persönlichen Kampf gegen den Iran und seine Helfershelfer, sei es die Hamas, die Hisbollah oder die Huthi. Netanjahu wolle der Krake den Kopf abschlagen.

Hohe Anzahl getöteter Zivilisten

Offen ist, wie weit Israels wichtigster Verbündeter, die USA, diesen Weg mitzugehen bereit sind. Der (noch) amtierende US-Präsident Joe Biden hat der israelischen Regierung routinemäßig Unterstützung zugesagt, sollte der Iran angreifen, aber bei einem offenen Angriff Israels auf den Iran, womöglich auf atomare Anlagen, würde die US-Regierung vermutlich zögern. Netanjahu davon abzuhalten, das ist Biden nicht zuzutrauen, zumal seine Tage im Amt gezählt sind.

Die äußerst brutale Kriegsführung der israelischen Armee im Gazastreifen kommt in der Rückschau einer Bestrafungsaktion gleich. Die angebliche Tötung dieser oder jener Hamas-Kommandeure, darunter der mutmaßliche Drahtzieher des Massakers vom 7. Oktober, Mohammad Deif, erbombt sich das Militär mit einer unverhältnismäßig hohen Anzahl getöteter Zivilisten. Die international angesehene Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) hat verschiedene Bombardements dokumentiert und kommt zu dem Schluss, dass die israelische Armee Kriegsverbrechen begangen und massiv gegen Menschenrechte verstoßen habe.

»Regierungskritiker sind vor allem enttäuscht, dass Netanjahu der Freilassung der Geiseln keine Priorität eingeräumt hat.«

Dahlia Scheindlin 
Israelische politische Analystin

So fordert Amnesty in einem Bericht vom Mai den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) auf, drei israelische Luftangriffe als Kriegsverbrechen zu untersuchen, bei denen im April im besetzten Gazastreifen 44 palästinensische Zivilpersonen, darunter 32 Kinder, getötet wurden. Die Angriffe seien ein weiterer Beleg für ein breiteres Muster von Kriegsverbrechen durch das israelische Militär.

Wie rücksichtslos der Krieg von der israelischen Armee geführt wird, belegen auch Zahlen über die Zerstörungen der Infrastruktur im Gazastreifen. Laut einer Studie vom März sollen nach den ersten fünf Kriegsmonaten bereits über 35 Prozent der Gebäude zerstört worden sein. Einer anderen Untersuchung zufolge, zitiert von der britischen Rundfunkanstalt BBC, geht sogar von 50 bis 60 Prozent aus. Alain Gresh gebrauchte dafür in der Zeitschrift »Le Monde diplomatique« das Wort »Domizid«, also die gezielte und großräumige Zerstörung von Wohnraum und ziviler Infrastruktur.

Palästinenser sollen Gazastreifen verlassen

Das Bild vervollständigt sich, wenn man so manchen israelischen Regierungspolitiker reden hört. Israels Finanzminister Bezalel Smotrich, der auch für den illegalen Siedlungsbau im besetzten Westjordanland zuständig ist, sorgte im August mit einer Aussage erneut für internationale Empörung: »Niemand auf der Welt wird uns erlauben, zwei Millionen Menschen verhungern zu lassen, auch wenn dies gerechtfertigt und moralisch vertretbar wäre, um die Geiseln zu befreien.«

Im Dezember drängte er in einem Gespräch mit dem Armee-Radio die unter Beschuss stehenden Palästinenser im Gazastreifen zur Auswanderung, damit die Israelis »die Wüste zum Blühen bringen« könnten: »Was im Gazastreifen getan werden muss, ist die Auswanderung zu fördern. Wenn es 100 000 oder 200 000 Araber in Gaza gibt und nicht zwei Millionen Araber, wird die ganze Diskussion am Tag danach ganz anders aussehen.«

Siedlerbewegung erhält Rückendeckung

Diese Aussagen sind nicht nur menschenverachtend und rassistisch, sondern auch ein klarer Fall für den Staatsanwalt. Smotrich spricht zwar nicht für die gesamte israelische Regierung, aber er scheint derjenige zu sein, der sich nach vorne drängt (oder vielleicht geschubst wird), um explizit in Worte zu fassen, was zumindest in Hinterzimmern angedacht und sich teilweise auf den Schlachtfeldern faktisch vollzieht. Konsequenzen musste Smotrich für seine Äußerungen nie fürchten, weder in Israel noch auf der internationalen Bühne. Netanjahu lässt ihn gewähren, und das Ermittlungsverfahren des IStGH braucht Zeit.

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Smotrich gehört mit einigen anderen Kollegen wie Polizeiminister Itamar Ben Gwir zu der Gruppe von Regierungspolitikern, die sagen, »die Zeit seit dem 7. Oktober ist die beste Zeit, die wir jemals für unsere Siedlerbewegung erlebt haben«, berichtet Gil Shohat vom RLS-Büro in Tel Aviv, weil jetzt Fakten geschaffen werden könnten, die bisher nicht zu schaffen möglich gewesen seien, weil der Staat bei gewaltsamen Übergriffen von Siedlern gegen Palästinensern im besetzten Westjordanland schlicht wegschaut.

Kein einheitliches Meinungsbild in Israel

Dass auch die Menschen in Israel generell so denken wie Smotrich, würde Gil Shohat vom RLS-Büro in Tel Aviv nicht unterschreiben. »Aber die Zerstörung Gazas, die massenhafte Tötung zehntausender Menschen, die sich jetzt auch auf den Libanon ausweitet, das sind alles Dinge, die für die meisten Menschen doch vertretbar sind angesichts dessen, was sie als nie dagewesene Ausweitung der Gewalt erlebt haben.«

Dahlia Scheindlin, israelische politische Analystin und Kolumnist bei der Tageszeitung »Haaretz«, erklärt gegenüber »nd«, dass es in der Bevölkerung kein einheitliches Meinungsbild gebe. Für Regierungsanhänger erledige die Regierung ihre Sache gut oder gehe nicht aggressiv genug vor. Regierungskritiker hingegen glauben, dass Netanjahu von seinen persönlichen Interessen motiviert sei und keine klaren Ziele oder Strategien für die Zukunft habe. »Sie sind vor allem enttäuscht, dass er der Freilassung der Geiseln keine Priorität eingeräumt hat.«

Wiederherstellung der Abschreckung

Die Unterstützung für den Krieg im Gazastreifen sei »im Großen und Ganzen« nach wie vor groß, sagt Dahlia Scheindlin, »aber es gibt Bedenken wegen des Fehlens eines strategischen Endpunkts« und den Verdacht, dass Netanjahu den Krieg allein für seine politische Zwecke fortsetze. Das ist auch der Punkt von Andreas Krieg, der am Londoner Kings College zu Internationaler Sicherheit lehrt und forscht. »Es gibt in Israel keine Vorstellung darüber, wie Sicherheit und Frieden erreicht werden können«, erläuterte er bei Al-Jazeera. Der Widerstand in Gaza könne nicht vernichtet werden mit militärischen Mitteln, sondern nur mit politischen.

Zumindest für ein Ziel mag die Kriegsführung gut sein: zeigen, wer die militärische Übermacht im Nahen Osten ist. Israel versucht, seine beschädigte Abschreckung in der Region wiederherzustellen, vor allem gegenüber dem Erzfeind Iran, denn nach Einschätzung des israelischen Politik-Professors Jonathan Rynhold hatte Israels Ruf nach dem 7. Oktober deutlich gelitten. Der Schock des Massakers habe Israels Ansehen als starke regionale Macht und Verbündeter gegen den Iran erschüttert, erläuterte er gegenüber der Nachrichtenagentur »dpa«. Dies habe sich aber inzwischen – ein Jahr nach Kriegsbeginn – klar gewandelt. Israel ist sichtbar von der Defensive in die Offensive gegangen.

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