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Pränataldiagnostik: Selektion ist gängige Praxis

Aufschrei bei Heckemanns Eugenik-Fantasie, einhellige Stille zu vorgeburtlichen Tests

  • Jonte Lindemann
  • Lesedauer: 6 Min.
Mit schon jetzt regelmäßig eingesetzten nicht-invasive Pränataltests könnten Föten theoretisch auf eine Vielzahl genetischer Abweichungen untersucht werden.
Mit schon jetzt regelmäßig eingesetzten nicht-invasive Pränataltests könnten Föten theoretisch auf eine Vielzahl genetischer Abweichungen untersucht werden.

Im Sommer schlug ein Skandal um den Vorstandschef der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Sachsen hohe Wellen. Klaus Heckemann, bereits seit 20 Jahren in dieser Funktion tätig, hatte im Juni im Editorial der Mitgliederzeitschrift ein Zukunftsszenario entworfen, in dem »(a)llen Frauen mit Kinderwunsch (…) eine komplette Mutationssuche nach allen bekannten, autosomal-rezessiv vererbbaren, schweren Erkrankungen angeboten« wird. Würden bei beiden Elternteilen die gleichen Mutationen festgestellt, könnte die Weitergabe mittels In-Vitro-Fertilisation und Präimplantationsdiagnostik verhindert werden, bestimmte Erkrankungen könnten so »innerhalb einer Generation« beendet werden. Für Spontanmutationen brauche es allerdings weiterhin die Pränataldiagnostik.

Besonders besorgniserregend ist, dass seine »Vision« Teil einer Kostenkalkulation ist: Mit jährlichen Gesamtkosten von nur 750 Millionen Euro sei ein solches Screening günstiger als teure Therapien. Behinderungen und chronische Krankheiten als leidgeprägt, gar als vermeidungswürdige finanzielle Mehrbelastung der Allgemeinheit einstufen und mithilfe moderner Medizin aus der Gesellschaft verbannen – sogar Heckemann selbst resümiert am Ende des Textes, dass die »Nutzung einer solchen Chance (…) natürlich zweifellos Eugenik« wäre, aber »in ihrem besten und humansten Sinne«.

Unter anderem wegen dieses Satzes ging ein kleiner Aufschrei durch die Öffentlichkeit. Behindertenrechtsorganisationen, Gedenkstätten, Selbsthilfeorganisationen chronisch Erkrankter und auch medizinische Verbände kritisierten Heckemanns Äußerungen und forderten seinen Rücktritt. So schrieb etwa AbilityWatch: »Als Behindertenrechtsorganisation sehen wir es als unsere Aufgabe an, die Rechte und die Würde von Menschen mit Behinderungen zu verteidigen, weshalb wir (…) die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen auffordern, unverzüglich sicherzustellen, dass Menschen wie Dr. Klaus Heckemann keine Verantwortung mehr in ihrer Organisation tragen.« Der öffentliche Protest zeigte Wirkung: Am 4. September wurde Heckemann in einer eigens dafür einberufenen Sondersitzung abberufen.

Ideen der Eugenik kulminierten in den Verbrechen der Nazis

Der Eugenik-Begriff ist in Deutschland fest mit den nationalsozialistischen Morden und Zwangssterilisationen an behinderten Menschen verknüpft, auch wenn der Gedanke, mit Zwangsmaßnahmen die Fortpflanzung von als »minderwertig« gelabelten Menschen zu verhindern, deutlich älter ist. Die Idee, durch pro-natalistische Anreize die Geburtenrate bestimmter Bevölkerungsgruppen zu erhöhen und die Fortpflanzung anderer Gruppen zu unterbinden und somit eine angebliche »Verbesserung« der Gesamtbevölkerung zu erzielen, findet sich schon bei Platon. Mit der Evolutionslehre Charles Darwins und den Veröffentlichungen seines Cousins Francis Galton, der den Begriff »Eugenik« prägte, erhielt dieser Gedanke neuen Aufwind und eine vermeintlich wissenschaftliche Unterfütterung. Veröffentlichungen zur »Eugenik« hatten ab Ende des 19. Jahrhunderts Hochkonjunktur, viele Länder führten Sterilisationsprogramme ein. Ihren traurigen Höhepunkt fand die »Eugenik« in den Verbrechen der Nazis. Dazu gehört die Zwangssterilisation von zirka 400 000 Menschen unter dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« ebenso wie die Ermordung von 300 000 behinderten, psychisch erkrankten und suchtkranken Menschen.

Die AfD fiel mit einer behindertenfeindlichen Anfrage auf

Vielfach wurde darauf hingewiesen, dass Heckemanns Äußerungen an den Sprachgebrauch der Nazis erinnerten oder der Politik der AfD entsprächen (für diese war Heckemann in der Vergangenheit als Redner aufgetreten). Die AfD hatte bereits 2018 für Aufsehen gesorgt, als sie mit einer kleinen Anfrage zur Entwicklung der Zahl der Schwerbehinderten versuchte, einen Zusammenhang zwischen Migration, Inzest und Behinderung herzustellen. Kontinuitäten eugenischen Denkens sind allerdings kein reines Phänomen der extremen Rechten, sondern zeigen sich auch in der gesellschaftlichen Mitte. Das zeigt sich nicht zuletzt in den Berichten von Eltern behinderter Kinder, die regelmäßig Aussagen begegnen wie: »So was muss doch heutzutage nicht mehr sein.«

Zwischen der (berechtigten) öffentlichen Empörung über die Causa Heckemann und der gesellschaftlichen Wahrnehmung selektiver Praktiken, die bereits stattfinden, klafft eine riesige Lücke. Geht es am Ende mehr um seine Wortwahl und den affirmativen Gebrauch des Eugenik-Begriffs, als um die schaurige »Zukunftsvision«, die er entwirft?

Die meisten Schwangeren lassen auf Trisomien testen

Die vorgeburtliche Suche nach Behinderungen ist spätestens mit der Kassenfinanzierung des nicht-invasiven Pränataltests (NIPT) zum Normalfall in der Schwangerschaftsbegleitung geworden. Beim NIPT wird die DNA des Fötus aus dem Blut der schwangeren Person gefiltert und auf die Trisomien 21, 18 und 13 untersucht. Da die Trisomien 18 und 13 im Ultraschall deutlich besser erkennbar sind, wird der NIPT vor allem als Suchtest auf Trisomie 21 verstanden. Der NIPT hat keinen medizinischen Nutzen, da sich aus dem Ergebnis keine Behandlungsoptionen ergeben. In der Debatte um die Kassenfinanzierung hatte es immer wieder geheißen, der NIPT dürfe nicht zu einem Massenscreening auf das Down Syndrom werden – aber bisher wird überhaupt nicht erhoben, ob das der Fall ist. Eine klare Definition, wann der NIPT wirklich als Kassenleistung abzurechnen ist, fehlt ebenso wie eine wissenschaftliche Untersuchung zu den Auswirkungen der Kassenzulassung. Eine Beratung des Gesundheitsausschusses im Bundestag (G-BA) über ein Monitoring ist für den 9. Oktober angesetzt, nachdem es bereits im Juni 2023 eine entsprechende Entschließung des Bundesrates gab. Die Abrechnungsdaten der Krankenversicherungen zeigen einen deutlichen Anstieg der Inanspruchnahme des NIPT auf Trisomien: Im dritten Quartal 2023 nahmen rund 83 Prozent der Schwangeren den Test in Anspruch, im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es noch 60 Prozent gewesen. Entgegen der proklamierten Intention scheinen Schwangere den Test als Teil der Regelversorgung zu verstehen – und zu nutzen.

Eine Ausweitung vorgeburtlicher Tests ist möglich

Der NIPT ist theoretisch auf eine Vielzahl weiterer genetischer Abweichungen ausweitbar. Der Beschluss des G-BA zur Kassenfinanzierung schafft hier einen gefährlichen Präzedenzfall. Anbieter könnten auf die Kostenübernahme weiterer Tests klagen. Einige stehen Patient*innen in Deutschland bereits jetzt als sogenannte IGeL-Leistung zur Verfügung, etwa die zusätzliche Untersuchung auf Abweichungen der Geschlechtschromosomen. Wie häufig hier nach einem auffälligen Ergebnis ein Schwangerschaftsabbruch erfolgt, wird nicht erhoben. Die Bundesärztekammer hatte in den 1970er Jahren bestimmte Formen der Intergeschlechtlichkeit als zulässigen Grund für eine Abtreibung definiert – sie fallen bis heute unter die medizinische Indikation.

Pränatale Tests auf Behinderungen sind in Deutschland bereits Teil der medizinischen Leistungen und erfahren eine zunehmende Normalisierung. Eine breite öffentliche Skandalisierung erfahren die Tests aber bisher nicht. Gleichzeitig scheint es ein mangelndes Bewusstsein über die selektiven Aspekte im Bereich der assistierten Reproduktion zu geben, darauf deutet zumindest die fehlende öffentliche Debatte zur möglichen Legalisierung des Eizelltransfers hin.

Legalisierung der Eizellspende befördert Selektion

Bereits seit April liegt der Abschlussbericht der von der Bundesregierung eingesetzten »Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin« vor. Darin kommt die Arbeitsgruppe II zu dem Schluss, dass eine Legalisierung des Eizelltransfers grundsätzlich rechtlich möglich, wenn auch nicht zwingend geboten, ist. Die FDP wirbt bereits parteiübergreifend Unterstützer*innen für dieses Vorhaben. Bisher verbietet das Embryonenschutzgesetz die Übertragung fremder Eizellen auf Dritte. Mit einer Legalisierung des Eizelltransfers stände also eine Reform jenes Gesetzes an, das momentan auch die Präimplantationsdiagnostik regelt – im Vergleich zu anderen Ländern in einem sehr eng gesteckten Rahmen. Ein Blick ins Ausland zeigt, dass an die Legalisierung von Technologien wie dem Eizelltransfer häufig auch ein Voranschreiten selektiver Praktiken gekoppelt ist: Angefangen bei der Auswahl der Personen, von denen Eizellen und Samenspende stammen, entlang von Kriterien wie Weißsein oder Bildungshintergrund, über die in Ländern wie Spanien bei Eizelltransfers längst standardmäßig durchgeführte Testung von Eizellgeber*innen auf bestimmte Erbanlagen über geschlechterselektive Embryonenauswahl bis hin zu anderen präimplantationsdiagnostischen Tests.

Niemand würde hier wie Heckemann von Eugenik sprechen. Und es gibt gute Gründe, diesen Begriff vorsichtig zu verwenden – schließlich ist die neoliberale Serviceoption eines zubuchbaren Tests etwas anderes, als ein staatlich gesteuertes Programm. Eine Entwicklung, die aber die Vermeidung behinderten Lebens immer weiter normalisiert, sollte uns zu denken geben – auch wenn sie unter anderen Namen verhandelt wird.

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