Abschiebehaft in Berlin: Eine Quote hinter Gittern

Aktuelle Zahlen stellen die Sinnhaftigkeit des Ausbaus der Abschiebungshaft infrage

Die Sanierung des Abschiebegewahrsams am Kirchhainer Damm soll bis Herbst 2025 abgeschlossen sein.
Die Sanierung des Abschiebegewahrsams am Kirchhainer Damm soll bis Herbst 2025 abgeschlossen sein.

Die Wellen des mutmaßlich islamistischen Terroranschlags von Solingen, bei dem drei Menschen durch einen Messerangriff ums Leben kamen, trugen die Debatte um eine Verschärfung der Migrationspolitik bis in die Hauptstadt. Unter anderem die schwarz-rote Koalition, aber auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) hatten für einen Ausbau der Abschiebungshaft plädiert.

Sinkende Abschiebezahlen im Jahr 2024 wurden damit in Verbindung gebracht, dass sich immer mehr Ausreisepflichtige einer Abschiebung entziehen würden. Die Zahl der Inhaftierten im Abschiebungsgewahrsam scheint jedoch ähnlich hoch wie im Jahr 2023 auszufallen, was einen direkten Effekt der Abschiebungshaft auf die Abschiebezahlen bezweifeln lässt. Die Zahlen legte die Senatsverwaltung für Inneres auf eine schriftliche Anfrage der Grünen-Abgeordneten Vasili Franco und Jian Omar dar.

Demnach waren 2024 bisher 20 Personen maximal 45 Tage inhaftiert. 2022 waren über das gesamte Jahr ebenfalls 20 Personen maximal 70 Tage inhaftiert gewesen, 2023 34 Personen maximal 71 Tage.

Zwölf Personen wurden 2024 aus der Abschiebungshaft tatsächlich abgeschoben, zwei Personen in andere Abschiebegewahrsame überstellt. Was mit den restlichen sechs Personen geschehen ist, geht aus der Antwort nicht hervor. 2022 und 2023 wurden 14 beziehungsweise 25 Personen aus der Abschiebungshaft abgeschoben.

Auch Abschiebungen, die aus der Strafhaft erfolgen, werden das Niveau von vor 2023 deutlich übertreffen. Wurden 2022 noch 162 Personen aus der Strafhaft abgeschoben, waren es 2023 laut Senat 266 und bis 31. August 2024 bislang 161 Personen.

»Während Berlin im Haushaltschaos versinkt, leistet es sich einen genutzten Haftplatz für durchschnittlich über zwei Millionen Euro pro Jahr.«

Vasili Franco (Grüne)

Neben der Abschiebungshaft und der Strafhaft können Personen auch von der Haustür oder der Unterkunft aus abgeschoben werden. Den um 19 Prozent deutlichen Rückgang auf 515 Abschiebungen insgesamt hatte die Koalition bisher mit einem Ausreißerjahr 2023 begründet, das nicht repräsentativ sei. Die nun vorliegenden Zahlen können diesen Trend nicht bestätigen. Abschiebungen aus der Abschiebungs- und Strafhaft sind bei Weitem nicht auf dem als vergleichsweise normal erachteten Niveau von 2022.

Der Senat jedenfalls sieht heute nicht oder nicht mehr vor, die Kapazitäten von derzeit zehn Plätzen im Abschiebungsgewahrsam auszubauen. Nach einer Sanierung des bisher genutzten Gebäudes am Kirchhainer Damm in Tempelhof-Schöneberg sollen weiterhin zehn Plätze für den Abschiebegewahrsam zur Verfügung stehen. Räumlich getrennt sollen zudem Insass*innen des Maßregelvollzugs am gleichen Ort untergebracht werden.

Vasili Franco, innenpolitischer Sprecher seiner Fraktion, begrüßt diese Information. »Es ist bei Weitem nicht so, dass Tag für Tag Terroristen in der Abschiebehaft landen«, erläutert er. Auch die Anzahl der in Berlin bekannten Gefährder, die der Senat im mittleren zweistelligen Bereich verortet, lasse keinen Mangel bei den vorhandenen Kapazitäten erkennen. »Gut, dass das auch der Senat mittlerweile erkannt hat«, so Franco. Das zeige aber auch, dass die nach Solingen entbrannte Debatte zur Ausweitung der Abschiebehaft in Berlin gänzlich faktenbefreit geführt worden sei.

Franco erklärt darüber hinaus: »Während Berlin im Haushaltschaos versinkt, leistet es sich einen genutzten Haftplatz für durchschnittlich über zwei Millionen Euro pro Jahr.« Da lasse sich zu Recht die Frage der Verhältnismäßigkeit stellen, besonders wenn Menschen Wochen vor dem Abschiebetermin inhaftiert würden. Laut Innenverwaltung kostet die Unterbringung von ein bis drei Insassen im Abschiebegewahrsam durchschnittlich 6,8 Millionen Euro im Jahr.

Ein Abschiebungsversuch des Attentäters von Solingen nach Bulgarien scheiterte im Juni 2023, da er in seiner Unterkunft nicht angetroffen werden konnte. In der Folge verstrich eine Überstellungsfrist an das EU-Land, wodurch die Zuständigkeit nun tatsächlich in Deutschland lag. Seit Ende 2023 gewährte Deutschland dem Syrer subsidiären Schutz. Diesen erhalten Personen, für die keine Flüchtlingseigenschaft festgestellt werden kann, denen aber bei einer Rückkehr ernsthafter Schaden drohen würde. Weder eine Abschiebung noch eine Abschiebungshaft waren demnach im Bereich des rechtlich Möglichen. Nach bisherigen Erkenntnissen war der Attentäter zuvor weder straffällig geworden noch infolge einer schweren Straftat als Gefährder eingestuft.

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