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- Der Anschlag von Halle 2019
İsmet Tekin: »Es gibt kein Aufatmen«
İsmet Tekin über den ermüdenden Kampf um Gerechtigkeit
Auf einer Kundgebung äußerten Sie 2020: »Das Gericht hat mich abgewiesen. Sie sagten, der Attentäter wollte mich nicht töten. Ich wünschte, es wäre so gewesen. Dann hätte ich vielleicht diese Albträume nicht mehr.« Das Oberlandesgericht Naumburg hat die Angriffe gegen Sie und gegen Aftax Ibrahim, den der Attentäter mit dem Auto erfasste, nicht als Mordversuche gewertet.
Ja, wir sind nicht als Betroffene des Anschlags anerkannt worden. Dann haben wir Revision eingelegt, wieder gekämpft, und ein zweites Mal gab es keine Gerechtigkeit. Der Täter hat selbst gesagt, er wollte jeden töten. Er war ein bekennender Rassist und plante, »möglichst viele Muslime und Schwarze auf der Straße« zu töten. Aber für das Anfahren von Aftax Ibrahim wurde er wegen fahrlässiger Körperverletzung angeklagt und verurteilt. Diese Tat wurde also als »Verkehrsunfall« gelistet. Der Generalbundesanwalt und das Gericht glaubten nicht, dass der Täter Aftax Ibrahim überfahren wollte oder zumindest seinen Tod in Kauf genommen hat. Ein Generalbundesanwalt muss doch auf die Gerechtigkeit seines Landes aufpassen. In Deutschland gibt es Gerechtigkeit, ja. Aber nicht für alle. Das wurde mir in diesem Fall klipp und klar gezeigt. Ich war in den Monaten nach dem Attentat sowieso schon traurig und völlig kaputt. Und dann kam noch hinzu, dass ich darum gekämpft habe, als Betroffener dieses Anschlags anerkannt zu werden.
İsmet Tekin ist Überlebender des antisemitischen und rassistischen Anschlags von Halle am 9. Oktober 2019. Er und sein Bruder Rifat Tekin arbeiteten damals im »Kiez-Döner«, einem der Anschlagsorte. Obwohl er sich in der Schusslinie des Täters und in unmittelbarer Lebensgefahr befand, wurde İsmet Tekin nicht als Überlebender des Anschlags anerkannt. Seit dem Attentat setzen er, sein Bruder und Unterstützer*innen sich gegen das Vergessen ein – mittlerweile im »Tekiez«, wo sie das Gedenken an die Opfer des Attentats organisieren.
Das rassistische Motiv des Attentäters wird somit weiterhin nicht berücksichtigt. Woher nahmen Sie die Kraft, als Nebenkläger gegen den Täter auszusagen und immer weiter zu kämpfen?
Kraft spendeten mir vor allem die weiteren Nebenkläger, die Betroffenen im Gerichtssaal und unsere Soligruppe 9. Oktober, anfangs noch ein loser Zusammenschluss von Menschen, die jede Prozesswoche mit einer Solidaritätsdemonstration begleiteten. Sie unterstützten uns Überlebende von Anfang an. Das alles hat mir Kraft von außen gegeben. Und ich trage auch eine innere Kraft in mir. Denn wenn ich ganz sicher weiß, dass etwas falsch oder ungerecht ist, dann kämpfe ich für Gerechtigkeit. Hinzu kommt mein Glaube, die Erziehung meiner Eltern, mein Charakter.
Ihr Wunsch war es, dass der Laden im Herzen von Halle erhalten bleibt – entgegen der Vorstellung des rechtsextremen Attentäters, der ihn auslöschen wollte. Deshalb übernahmen Sie den »Kiez-Döner« nach einer Trauerzeit, eröffneten dort ein Frühstückscafé – und mussten schließlich aus wirtschaftlichen Gründen schließen. Die Kunden blieben weg, die Pandemie begann, das Geld fehlte. Können Sie einen Einblick in diese Zeit geben?
Nach dem Attentat kamen Politikerinnen und Politiker nach Halle, legten Blumenkränze ab und hatten ein paar schöne Worte für uns. Das Problem: Sie vergaßen danach alles wieder. Aber die Hinterbliebenen und Überlebenden eines solchen Terroranschlags speichern alles ab – jedes Versprechen, das Politiker geben. Und sie beobachten genau, was danach passiert. Die Politiker sagten: »Wir sind bei euch, egal womit. Ihr könnt euch unserer Unterstützung sicher sein. Auch finanziell.« Auch die Zivilgesellschaft war hier, hat gesagt: »Wir lassen euch nicht alleine. Wir werden immer wieder kommen.« Meine Meinung ist: Das ist eine Verpflichtung aus Menschlichkeit, der man nachkommen muss. Es ist schwer, aber man muss eben etwas für eine demokratische Gesellschaft tun. Dieser Laden war nicht nur ein Laden. Er war ein Goldstück für die Zukunft. Ich habe immer gesagt: Bei uns eine Mahlzeit zu essen oder einen Kaffee zu trinken, das hat eine Bedeutung. Wir hätten damit zwei Familieneinkommen gesichert, meines und das meines Bruders, ebenfalls Überlebender des Attentats. Und wir hätten diesen Ort auf unsere Kosten weiterentwickelt, dafür gesorgt, dass er ewig an das Geschehene erinnert. Hätte das also geklappt, wäre das ein Zeichen dafür gewesen, dass wir in einer Demokratie leben, dass es hier Solidarität und Widerstand gegen rechten Terror gibt. Aber meiner Meinung nach sind die Stadt, die Regierung und der Bund allesamt durchgefallen. Wenn eine Stadt von über 250 000 Menschen einen kleinen Laden nicht halten kann, der zudem Tatort eines rechtsterroristischen Anschlags war – was ist das dann für eine Stadt? Es hat also leider nicht geklappt. Wir sind dennoch stolz auf das, was wir hier getan und geschafft haben.
Das »Tekiez«, heute kein migrantischer Gastronomiebetrieb mehr, sondern ein Raum des Gedenkens und des Austauschs, basiert auf Hunderten von Stunden ehrenamtlicher Arbeit. Allen Widrigkeiten zum Trotz haben Sie und Ihr Bruder es geschafft, dass es diesen Ort gibt. Weshalb ist es so wichtig, dass dieser Raum bestehen bleibt?
Diesen Ort gibt es nur dank der Unterstützung der Zivilgesellschaft. Behörden haben nichts dazu beigetragen. Alles hier ist handgefertigt. Geholfen haben uns ganz normale Menschen, die ihre Freizeit und ihre Ersparnisse dafür geopfert haben. Vorrangig kamen Studenten oder junge Leute, die gerade mit dem Studium fertig waren. Das war zwar ein schönes Bild, hat mich aber trotzdem traurig gemacht. Es gibt doch überall in Deutschland Menschen, die uns locker unterstützen könnten. Bloß waren gerade sie nicht dabei. Für mich soll dieser Ort für immer so bleiben. Es ist ein ewiges Erinnern. Denn es wird schnell vergessen. Das ist unser Kampf bundesweit, ob Überlebende und Hinterbliebene aus Hanau, Mölln oder Halle: Wir schreien, reden, sind laut, damit das Geschehene nicht vergessen wird. Aber die deutsche Gesellschaft schläft tief. Das »Tekiez« ist finanziell bis Ende 2025 gesichert. Danach ist wieder alles offen, eine Sicherheit haben wir nicht. Bundesweit haben Überlebende und Hinterbliebene das Problem, einen Ort zu bekommen und zu erhalten, an dem erinnert und der Ermordeten gedacht wird. Für mich ist es ganz klar die Aufgabe der Stadt Halle. Sie sollte diesen Laden übernehmen und uns als Gedenkort überlassen. Wir haben viele Pläne, die wir gerne umsetzen würden. Aber unser jetziger Stand ist lediglich, dass wir den Laden bis Ende 2025 haben.
Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft und die Ihres Bruders?
Seit dem Attentat befinden wir uns in einer nicht endenden schwierigen Phase. Es gibt kein Aufatmen. Überlebende rechten Terrors in Deutschland tragen nicht nur die Erfahrung eines Anschlags in sich. Sie überleben mehrere Anschläge. Das Attentat an sich – und alles, was darauf folgt. Die fehlende Zulassung als Nebenkläger, der Kampf um den Laden – all das aufzuarbeiten, braucht sehr lange Zeit. Unsere Kraft holen wir aus unseren eigenen Knochen, aus unserem Blut. Ich wünsche meinem Bruder und mir vor allem ein ruhiges und stressfreies Leben. Und eine bessere Gesellschaft. Damit wir hier alle miteinander entspannt und schön leben können. Es ist möglich. Wir leben doch im 21. Jahrhundert. Für mich hat jeder auf diesem Planeten eine menschliche Pflicht zu tun, egal ob Oma oder Opa, Frau oder Mann. Wir sind alle von Adam und Havva gekommen, von Menschen. Wenn alle ihrer menschlichen Pflicht nachgehen, dann geschieht so etwas wie dieser Terroranschlag nicht.
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