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»Und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen«

Thomas Steinfeld hat ein eindrucksvolles Porträt von Goethe zu dessen 275. Geburtstag verfasst

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 4 Min.
Johann Wolfgang von Goethe gibt es inzwischen auch als Playmobil-Figur, hier zwischen Martin Luther und Johann Sebastian Bach
Johann Wolfgang von Goethe gibt es inzwischen auch als Playmobil-Figur, hier zwischen Martin Luther und Johann Sebastian Bach

Wen hätte Johann Wolfgang von Goethe wohl heutzutage in Thüringen gewählt? Müßige Frage. Das großartige »Porträt eines Lebens« des 1954 geborenen Literaturwissenschaftlers Thomas Steinfeld schließt jede nationalistische und rückwärtsgewandte, antiemanzipatorische Partei auf dessen Wahlzettel aus.

Dem Autor ist ein großer Wurf gelungen. Sein Buch wird dem Protagonisten in jeder Hinsicht gerecht. Hier werden nicht nur die weltberühmten Werke des Dichterfürsten und Geheimrats, vom »Götz von Berlichingen« und den »Leiden des jungen Werther« bis zu »Faust« I und II, »Wilhelm Meister« und den »Wahlverwandtschaften« in ihrer Entstehungsgeschichte und Wirkmächtigkeit rekapituliert, sondern auch manche nahezu unbekannten mit knappen Inhaltsangaben vorgestellt. Die profunde Biografie zeigt den ganzen Menschen von seinen frühen familiären Prägungen in Frankfurt am Main über seine stürmischen Jugendjahre, Studium in Leipzig und Straßburg bis hin zu dessen schließlichem Lebensmittelpunkt in Weimar.

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Berichtet wird von dem leitenden Verwaltungsmann und frühen Kulturmanager in dem gar nicht so unbedeutenden thüringischen Herzogtum, mit dessen Landesherrn er sich zunächst unkonventionell gut verstand und mit dem er sich später arg auseinanderlebte. Das Lebensbild blickt dem Naturforscher über die Schulter, reflektiert dessen Erfolge und Irrtümer. Und natürlich kommt hier auch das Thema Goethe und das schöne Geschlecht nicht zu kurz. Steinfeld zählt sie alle auf, die Damen, in deren Bann sich Goethe gezogen fühlte, die er mal diskret, mal weniger diskret umwarb.

Der 21-Jährige hatte sich im elsässischen Sessenheim unsterblich in Friederike Brio verliebt, ließ sie aber bald im Stich. Legendär war seine nicht nur auf den langjährigen Briefwechsel zu reduzierende Freundschaft zu Charlotte Freifrau von Stein. Mit Christiane Vulpius hatte Goethe jahrelang zusammengelebt und Kinder gezeugt, die bis auf den Sohn August sämtlich früh verstarben, ehe er sie heiratete. Nach ihrem Tod verliebte sich der inzwischen über 70-Jährige in Marienbad in die 17-jährige Ulrike von Levetzow.

Goethes Italienreise ist weitgehend bekannt. Steinfeld nimmt den Leser aber auch auf dessen Reisen in die Schweiz mit und lässt ihn teilhaben an des Dichters Begeisterung angesichts der Kanonade von Valmy, dem Sieg der französischen Revolutionsarmee über die alliierten konterrevolutionären Mächte Europas. Geothe soll bei der Gelegenheit ausgerufen haben: »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.«

An turbulente Zeiten wird erinnert: die Große Französische Revolution, Napoleons Siegeszug quer durch Europa, bis der Imperator vor den Toren von Moskau gestoppt wurde und einen schmählichen und opferreichen Rückzug mit seiner Grande Arme antreten musste, die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und die Neuordnung Europas nach dem Wiener Kongress 1815. Informiert wird über die rasante Entwicklung der Wissenschaften, der Medizin und Technik. Das alles ergibt ein farbenreiches Panorama der Zeit, in der Goethe lebte, der universell interessiert war, als Dichter genial und als wissbegieriger Forscher seinen Zeitgenossen voraus. Seine Freundschaft zu Friedrich Schiller nimmt in Steinfelds Buch einen ebenso angemessenen Raum ein wie sein Einfluss auf die besten Jahre der Jenenser Universität mit den Größen der deutschen Philosophie wie Fichte, Schelling und Hegel. Was Goethe anfasste, gelang meistens mit einer gewissen Lässigkeit. Sein Arbeitstag war klar organisiert und strukturiert. Steinfeld zitiert Berichte über die konzentrierte und gedächtnisstarke Arbeitsweise des Multitalents. Alles das ist nicht neu, Steinfeld weiß dies aber neu und fesselnd zu erzählen. Sein Porträt liest sich zugleich als eine kritische Literaturgeschichte der deutschen Klassik, als eine Gesellschaftsgeschichte nicht nur Deutschlands, sondern Europas. Seine Biografie lädt ein, die Werke Goethes mal wieder im Original zu lesen.

Das Buch zitiert mannigfach Gedichte, Briefe, Romane und Theaterstücke und regt an, Goethe wieder in Original zu lesen. Gern legt man so ein gutes Buch nicht aus der Hand. Doch auch ein solches ist mal ausgelesen.

Thomas Steinfeld: Goethe. Porträt eines Lebens, Bilder einer Zeit. Rowohlt, 784 S., geb., 38 €.

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