Dekolonisierung? Nein, danke!

In Russlands Opposition ist die nationale Frage ein sensibles Thema

  • Ewgeniy Kasakow
  • Lesedauer: 4 Min.
In der russischen Opposition ist Julia Nawalnaja nicht unumstritten, hier mit dem Freiheitspreis der Medien, der ihr beim Ludwig Erhard Gipfel 2024 auf Gut Kaltenbrunn am Tegernsee verliehen wurde.
In der russischen Opposition ist Julia Nawalnaja nicht unumstritten, hier mit dem Freiheitspreis der Medien, der ihr beim Ludwig Erhard Gipfel 2024 auf Gut Kaltenbrunn am Tegernsee verliehen wurde.

Ein Ende des Ukraine-Krieges ist noch nicht absehbar. Doch ob Russland danach in seiner heutigen Form überhaupt noch existieren wird oder als Ergebnis einer Dekolonisierung auseinanderfallen soll, ist in der russischen Opposition schon jetzt ein heißes Thema. Mit einer Rede auf einem Strategieforum im September in Slowenien fachte Julia Nawalnaja, Witwe Alexej Nawalnys und selbsternannte Oppositionsführerin, die Diskussion erneut an. Mit Wladimir Putin könne man nicht wie mit einem legitimen Staatschef verhandeln, zugleich sei es falsch, in der Bevölkerung Russlands eine monolithisch-loyale Basis des Regimes zu sehen. Das Schüren von Hass auf alles Russische sei deshalb kontraproduktiv, so Nawalnaja an das Ausland gerichtet.

Deutlich sprach sich Nawalnaja gegen einen Zerfall Russlands aus. Verfechtern der Dekolonisierung warf sie vor, »Menschen mit gemeinsamem Hintergrund und gemeinsamer Kultur künstlich zu teilen«.

Die Reaktionen auf diese Worte ließen nicht lange auf sich warten. Zahlreiche Oppositionelle aus den »nationalen« Regionen – also den (Autonomen) Republiken und Gebieten – kritisierten Nawalnaja scharf. »Asiaten Russlands«, ein Medienprojekt für asiatische Völker im Land, wies darauf hin, dass »Dekolonisierung« nicht mit »Separatismus« gleichgesetzt werden muss. Andere Kommentatoren zeigten sich empört über die Formulierung »gemeinsame Kultur« und sahen darin den unverhohlenen russischen Imperialismus.

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Dabei ist das Thema, wie es nach Putin mit der »nationalen Frage« weitergehen soll, eines der schmerzhaften für die russische Opposition. Teile der Opposition bezeichnen das Land – egal ob das Zarenreich, die Sowjetunion oder die Russländische Föderation nach 1991 – mit Verweis auf anti- und postkoloniale Theorien als koloniales Projekt der Russen, in dem sich Nichtrussen in einem dauerhaften Befreiungskampf befinden.

In den 2000ern kam innerhalb der Opposition die »nationaldemokratische« Strömung auf, die anstelle eines multiethnischen Postimperiums einen russischen Nationalstaat forderte. Der »russländischen« Identität setzte sie eine russische entgegen. Das aus der Sowjetzeit übernommene Modell national-territorialer Autonomien wurde scharf kritisiert. Auch Alexej Nawalny, zunächst Aktivist der sozialliberalen Jabloko-Partei, übernahm Teile der nationaldemokratischen Rhetorik, was ihm einen Parteiausschluss bescherte. 2011 forderte er etwa, Russland soll aufhören »den Kaukasus zu ernähren«.

Unter Wladimir Putin fährt der Kreml eine zweigleisige Politik gegenüber den Regionen. So wird der Zentralismus in Russland stärker, während gleichzeitig der multiethnische Charakter des Landes anerkannt wird und den nationalen Republiken gewisse Spielräume gewährt werden. Für viele liberale Oppositionelle bedeutet die »multiethnische Föderation« hingegen zu viel Freiheit. So forderte der Milliardär Michail Prochorow, bei der Präsidentschaftswahl 2012 einziger zugelassener Kandidat der Liberalen, den Übergang zu einer rein territorialen Föderation ohne Sonderstatus für nationale Regionen. Michail Chodorkowski, ehemaliger Oligarch und heute eines der bekanntesten Gesichter der Exilopposition, spricht sich für einen Nationalstaat mit einem reinen »Staatsbürgernationalismus« aus. In diesem Staat, so Chodorkowski, solle die Staatsangehörigkeit »russisch« sein und nicht wie aktuell »russländisch«. Wie das ohne die massive Assimilation der Minderheiten umgesetzt werden soll, sagt Chodorkowski hingegen nicht.

Im Gegensatz zu Prochorow und Chodorkowski maß Nawalnyj den ethnischen Unterschieden im Land eine große Bedeutung zu. In einem Interview betonte er 2020, dass »Russen« eine ethnische Kategorie seien und dass unterschiedliche ethnische Identitäten auch weiterhin eine Rolle spielen werden.

Wie auch Chodorkowski sah auch Nawalny den Zustand, dass Regionen wie Tschetschenien oder Tuwa als »Staat im Staate« existieren, als unhaltbar an.

In der Realität spielt separatistischer Antikolonialismus in den meisten nationalen Regionen eine marginale Rolle. Befeuert wird die Debatte aber dennoch etwa durch das Free Nations of Postrussia Forum, das im Mai 2022 in Warschau gegründet wurde. Das Forum umfasst verschiedene regionale und nationale Bewegungen, von denen die meisten im Ausland oder im Internet aktiv sind. Offensiv fordert das Forum die Auflösung Russlands als Staat und traf sich dafür auch schon in Räumlichkeiten der Europäischen Union in Brüssel. Bisher hat das Forum keinen nennenswerten Einfluss auf die russische Opposition. Dass sich Nawalnaja dennoch zur Dekolonisierung äußerte, zeigt jedoch, wie ernst das Thema im Anti-Putin-Lager genommen wird.

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