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Die Iraner zwischen Krieg und Frieden
Nach dem Raketenangriff Irans auf Israel wartet alles auf den Gegenschlag Israels
»Wir wollen Frieden für alle und suchen mit niemandem Krieg«, das waren die Worte des frisch gewählten iranischen Präsidenten Massud Peseschkian noch im September. Genau eine Woche später feuerte der Iran 180 Raketen auf Israel ab. Dieser Angriff war die Rache des Regimes an Israel für die Ermordung der Führer seiner wichtigsten Verbündeten im Nahen Osten: des Leiters des Politbüros der Hamas, Ismail Hanijeh, sowie des Generalsekretärs der Hisbollah, Hassan Nasrallah. Beim Angriff war für Teheran die Symbolik wichtiger als die Folgen für den jüdischen Staat: eine Gesichtswahrung gegenüber Unterstützern nach öffentlichen Ohrfeigen.
Der radikale Teil des iranischen Establishments kritisierte bereits den 85-jährigen Führer des Landes, Ajatollah Ali Chamenei, als zu zurückhaltend. Obwohl dieser schon seit Jahrzehnten antiisraelische Propaganda betreibt, steht er vor einer schwierigen Entscheidung: ein wirklicher Krieg mit Israel oder weiter nur verbale Drohungen?
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Schlechte Wirtschaftslage
Die wichtigsten Gründe, die das iranische Regime von einem umfassenden Krieg abhalten, sind die fehlende Popularität der Offiziellen in der Bevölkerung und die schlechte Wirtschaftslage. Die Eskalation löste bei einigen Iranern zwar eine kurze Welle nationalistischer Gefühle aus, was sie mit Nationalflaggen und antiisraelischen Parolen auf die Straße trieb. Aber selbst unter den Protestierenden gibt es kaum jemanden, der einen echten Krieg gegen Israel will.
»Die wirtschaftliche Lage im Land ist sehr angespannt. Die Mehrheit der iranischen Bevölkerung ist gegen einen solchen Krieg«, zeigt sich der in Berlin lebende iranische Politologe Amir Tschahaki gegenüber »nd« überzeugt. Von 2012 bis 2020 sank das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im Land von 8000 US-Dollar auf weniger als 3000. Ein Drittel der Einwohner lebt von weniger als zwei Dollar pro Tag. Die Landeswährung Rial hat in den letzten drei Jahren um etwa 90 Prozent an Wert verloren.
Rentner fordern mehr Geld
Vor diesem Hintergrund konzentrieren sich die Iraner zunehmend auf die Innenpolitik. So kam es auch am Tag nach der Ermordung Nasrallahs im ganzen Land zu Protesten von Rentnern, die mehr Geld forderten. Zur Zeit der Eskalation des Konfliktes zwischen dem Iran und Israel vor einem Jahr gab es sogar Demonstrationen, bei denen die Behörden aufgefordert wurden, sich nicht einzumischen, unter dem Slogan »Kein Gaza, kein Libanon. Ich gebe mein Leben nur für den Iran«. Dazu meint Tschahaki: »Diese Worte sind weiter relevant und die meisten Iraner denken so.«
»Wenn eine Zweistaatenlösungfür Israel und die Palästinenserim Konflikt durchgesetzt wird,wird der Iran nicht weiter gegen Israel kämpfen.«
Ali Omidi
Professor für Internationale Beziehungen
Dennoch sind die Behörden des Irans, die ihre Stellvertreter der sogenannten Achse des Widerstands wie Tentakeln über den ganzen Nahen Osten verbreitet haben, eng mit den Ereignissen in Gaza verbunden. Der Krieg, der bereits mehr als 40 000 Menschenleben gefordert hat, dauert seit einem Jahr an, ohne dass eine Einigung zwischen Israel und der vom Iran unterstützten Hamas in Aussicht steht. Bis zu einem wenigstens vorübergehenden Waffenstillstand wird Teheran im Modus der Spannung mit dem jüdischen Staat bleiben. »Wenn eine Zweistaatenlösung für Israel und die Palästinenser im Konflikt durchgesetzt wird, wird der Iran nicht weiter gegen Israel kämpfen«, sagt gegenüber »nd« Ali Omidi, Professor für Internationale Beziehungen in der zweitgrößten iranischen Stadt Isfahan.
Fehleinschätzung der israelischen Reaktion
Unmittelbar nach dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 begann die Hisbollah mit einem massiven Beschuss Nordisraels, der dazu führte, dass rund 80 000 Menschen von dort evakuiert werden mussten. Hier verrechnete sich Hisbollah-Führer Nasrallah: Er glaubte, dies würde nur zu einzelnen Vergeltungsschlägen Israels führen – doch die Reaktion waren die Eliminierung vieler Anführer der Miliz, darunter Nasrallah selbst, und eine Bodenoffensive der Israelis.
Solche Fehleinschätzungen machen auch den Gönnern der Hisbollah im Iran Kopfzerbrechen. »Man glaubte, dass die Hisbollah wie andere Stellvertreter vom Iran benötigt werden, um Israel einzudämmen. Aber jetzt ist sie eher ein Problem des Iran«, erklärt Tschahaki. Da sie um ihre verletzliche Situation wissen, wollen sie keine weitere Eskalation, um nicht auch in den Fokus des wichtigsten Verbündeten Israels, der USA, zu geraten. »Teheran weiß sehr gut, dass Israel als Amerikas rechte Hand agiert und Washington Israel in jeder Situation helfen wird. Aus diesem Grund will der Iran keine Ausweitung des Krieges in der Region«, betont Omidi.
Auf dem Weg zur Atombombe
Der Sieg des einzigen Kandidaten der Reformer, Massud Peseschkian, bei der Präsidentschaftswahl im Juli gegen drei Konservative machte Hoffnung auf Veränderungen in der iranischen Politik. Während des Wahlkampfs sprach der spätere Präsident viel über die Notwendigkeit, den Iran aus der Isolation zu holen, sich dem Westen anzunähern. Doch in der Praxis ist der Präsident nur der Chef der Exekutive und kann seinen Kurs nur mit Mühe umsetzen.
Dominant sind aktuell die Hardliner. Als solche zählen vor allem die Chefetagen der Iranischen Revolutionsgarde, die etwa 50 Prozent der Volkswirtschaft kontrollieren. So reichert der Iran laut der Internationalen Atomenergiebehörde weiter Uran an, um der Herstellung von Atomwaffen näher zu kommen. Die verschärfte Lage in Gaza und im Libanon ohne Aussicht auf ein Ende zwinge die Iraner zu diesem Schritt, ist Abolfazl Bazargan, Experte für internationale Sicherheit an der Universität Teheran, überzeugt: »Der Iran hat keine andere Möglichkeit mehr, das einzudämmen, als den Bau der Atombombe.«
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