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Das Jammern als Fieberthermometer einer kranken Gesellschaft
Olivier David verteidigt das Jammern der Deutschen. Für ihn ist es ein Ausdruck der Ungerechtigkeit
Kennen Sie noch den SPD-Haudegen Peer Steinbrück? Der war mal Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, später Finanzminister in der schwarz-roten Bundesregierung und noch ein bisschen später unterlegener Kanzlerkandidat gegen Angela Merkel. In einem Interview sagte Steinbrück diese Woche, »das ewige Jammern« der Deutschen nerve ihn. Und weiter: »Über 90 Prozent der Weltbevölkerung würden ihre Probleme gern mit unseren tauschen.«
Damit ist Steinbrück nicht allein: Im Land der Anpacker mag man es nicht, wenn gejammert wird. Die Rechten und Liberalen mögen das Jammern nicht, weil es das Land oder das Volk (was auch immer das sein soll) schwach aussehen lässt. Außerdem gibt es eine Konjunktur zu verteidigen, und wenn nicht die, dann wenigstens die Hoffnung darauf.
Manche Linke mögen das Jammern der Leute aber ebenfalls nicht, weil sie glauben, dass es ein unproduktives Gefühl ist, das sich vor allem selbst genügt. Motto: Wer jammert, der will die Welt nicht verändern, der will in der Regel einfach nur jammern. Dieses Meinungsbündnis mit rechten Kritikern des Gejammers muss dringend aufgekündigt werden.
Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen. Zudem hostet er einen gleichnamigen Podcast über Klasse, Krise und Kultur. Alle Folgen auf dasnd.de/klasse.
Was ist Jammern überhaupt? Jammern, das tun immer nur die Anderen, niemand würde sein eigenes Uneinverstandensein mit seiner jeweiligen Lage als Gejammer bezeichnen. Jammern ist eine Fremdzuschreibung, die einen vorwurfsvollen Unterton mit sich bringt. Wer jammert, der hat sich vorher noch ganz andere Sachen zu Schulden kommen lassen: Der war sicher faul oder ist irgendwie selbst schuld an den Problemen, über die er oder sie jammert.
Ich dagegen behaupte, wir haben allen Grund, uns das Gejammer zurückzuerobern und es als das zu betrachten, was es ist: der Ausdruck des Leids in einer Gesellschaft, die vielen Menschen kein würdevolles Leben ermöglicht.
Also Peer Steinbrück, es bringt mir und meinen täglichen Magenschmerzen leider gar nichts, dass das Gesundheitssystem in 90 Prozent der Welt beschissener ist als in Deutschland, wenn ich (wie ich heute erfahren habe) mehr als acht Monate auf einen Arzttermin warten darf, der die Ursache meines Leidens klären soll.
Menschen, die jammern, sind wie eine Art Fieberthermometer. Sie zeigen an, woran es unserer Gesellschaft fehlt: nämlich an Geld, Würde, Sicherheit, Selbstbestimmung und Empathie. Jemandem zu sagen, er jammere, zeugt von einem Versuch, das Gegenüber zu diskreditieren. Menschen, die jammern, braucht man nicht mehr zuhören.
Und genau da müssen Linke sich anders verhalten, als das Jammern bloß als ein nicht in politische Handlung umzuformatierendes Gefühl zu verstehen. Menschen, die jammern, haben noch nicht aufgegeben. Ihr »Ich-kann-nicht-mehr« bedeutet, dass noch Kraft da ist, Ungerechtigkeiten zu artikulieren und sie nicht einfach hinzunehmen. Daran kann man anknüpfen.
Nicht jede Person, die jammert, lässt sich mobilisieren. Aber den Botschafter einer Nachricht niederzumachen, der davon Kunde gibt, dass es ihm schlecht geht, ist wohl eine der dankbarsten Steilvorlagen für ein »Weiter so« in der Politik – und das kann sich eine gesellschaftliche Linke nicht leisten.
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