Transgender: Keine moderne Erfindung

»Ein Skelett sagt nichts über Geschlecht aus«, sagt Gali Jaffe, Archäologin und trans Frau

  • Interview: Christina Focken
  • Lesedauer: 7 Min.
Archäologie – Transgender: Keine moderne Erfindung

Gali Jaffe, was sagen Sie dazu, dass Menschen sich darüber beschweren, dass man mit Genderthemen nun auch einen Bereich wie die Archäologie vermeintlich politisiert?

Jaffe: Es kommt darauf an, wie man es betrachtet. Als trans Person ist deine bloße Existenz in einigen Teilen der Welt ein politisches Statement. Aber gehen wir einen Schritt zurück: Die Archäologie ist eine Wissenschaft der Fakten. Es geht nicht um Politik, denn die Funde und damit die Fakten sind da. Die Frage ist nur, ob sie sie sehen wollen oder nicht.

Aber es geht auch darum, wie man mit Funden umgeht, oder?

Ja. Vieles an der Art und Weise, wie wir Geschlecht in der Archäologie betrachtet haben und es teilweise immer noch tun, stammt aus dem 19. Jahrhundert. Wenn man ein Grab mit einem Schwert fand, wurde automatisch angenommen, es habe einem Mann gehört. Natürlich gab es damals nicht die Mittel, um DNA-Tests oder Ähnliches durchzuführen. Aber es wurde schlicht keine andere Möglichkeit in Betracht gezogen. Das Problem ist also oft die Herangehensweise derjenigen, die die Funde erforschen, weil sie anderen Interpretationen keine Chance geben.

Interview

Gali Jaffe ist Archäologin mit einem Masterabschluss von der Universität von Tel Aviv. Sie arbeitete bei verschiedenen Ausgrabungen, der Israel Antiquities Authority und in der Erwachsenenbildung. 2021 zog sie nach Berlin, wo sie als Stadt- und Museumsführerin tätig ist und Vorträge zum Thema Geschlecht und Archäologie hält. Zurzeit arbeitet sie an der Veröffentlichung eines Buches über archäologische Erkenntnisse bezüglich trans Personen.

Wie weit können wir in der Geschichte zurückgehen und Geschlechterkonzepte finden, die nicht binär und feststehend sind?

Die Sache mit der Archäologie ist: Je weiter man zurückgeht, desto schwieriger ist es, bestimmte Fakten festzustellen. Denn wenn man, sagen wir, 2500 Jahre zurückgeht, findet man meistens irgendeine Form von schriftlichen Aufzeichnungen. Aber weiter in der Vergangenheit erreicht man einen Punkt, an dem man keine Dokumente mehr vorliegen hat. Wie weit können wir uns in die Gedankenwelt der Menschen von vor 10 000 oder 20 000 Jahren hineinversetzen, wenn wir nicht einmal Unterlagen dazu haben? Das ist schwierig.

Gibt es einen bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte, zu dem Sie mit einiger Sicherheit sagen können, dass es Nichtbinarität oder Transgender gab?

In dem Buch, das ich zu dem Thema veröffentlichen möchte, beginne ich etwa 3000 vor Christus. Das ist also etwa fünftausend Jahre her. Aus dieser Zeit haben wir Belege für die Gala. Das waren sumerische Priester, und sie waren eventuell das, was wir heute transgender nennen würden. Aber man muss in der Archäologie wie gesagt sehr vorsichtig sein. Ich möchte mich nicht festlegen, wenn ich keine entscheidenden Informationen vor mir habe. Deshalb lasse ich gerne Fragezeichen stehen.

Können Sie näher erklären, was es mit den Gala auf sich hat?

Die Gala waren eine Sekte von Priestern, die, soweit wir wissen, mit der Göttin Ischtar verbunden waren. Ischtar könnte man im Prinzip ebenfalls als transgender bezeichnen. Wir haben Gedichte über Ischtar beziehungsweise die Göttin Inanna, eine frühere Inkarnation: Sie beide konnten ihr Geschlecht wechseln und außerdem das Geschlecht von Menschen ändern. Wir gehen aber davon aus, dass sie das der Mythologie zufolge eher gemacht haben, um Leute zu ärgern. Es gab vermutlich verschiedene Priestersekten, eine für die männliche Seite und eine eben für die weibliche Seite. Aber die Gala waren sehr feminin geschminkt, trugen femininen Schmuck und Kleider, und sie hatten, soweit wir das nachvollziehen können, hohe Stimmen. Das könnte vielleicht von einer Kastration herrühren. Wir haben Figuren von ihnen, wir haben Aufzeichnungen in Keilschrift über die Gala. Es hat sie wirklich gegeben. Die Frage ist nur, wie man diese Informationen und Artefakte interpretiert.

Und was ist Ihre Interpretation?

Wir haben es hier vermutlich mit Männern zu tun, die sich wie Frauen kleideten, weibliche Rituale durchführten und eine trans Göttin verehrten. Bedeutet das aber, dass sie transgender waren, so wie ich transgender bin, was für mich bedeutet, dass es Aspekte an mir gibt, die mich dysphorisch machen, mit denen ich mich unwohl fühle? Ich weiß es nicht. Haben sich die Gala so verhalten, weil sie dazu gezwungen wurden, etwa als Bestandteil einer religiösen Zeremonie? Das ist möglich. Wir können jedenfalls nicht mit Sicherheit sagen, dass diese Personen transgender waren. Aber wir können durchaus festhalten, dass die Gesellschaft, in der sie lebten, offen für die Idee war, dass Geschlecht sich ändern kann.

Haben Sie weitere Beispiele?

Ja, natürlich. In der Vorstellung der Alten Ägypter*innen etwa mussten Frauen das Geschlecht wechseln, um ins Jenseits zu kommen. Das ist spannend, oder? Das berühmteste Beispiel ist natürlich Elagabal, der im zweiten Jahrhundert der Kaiser von Rom war. Oder vielleicht sollte ich besser sagen, Kaiserin von Rom? Wir wissen nämlich, dass Elagabal nachts tatsächlich vor den Tavernen stand, um Männer zu verführen! Und sie bat darum, Dame und nicht Mann genannt zu werden. Auch bei den Wikinger*innen finden wir Informationen bezüglich der Idee eines Geschlechterwechsels. Zum Beispiel gibt es Grabsteine, auf denen steht, dass jemand, der sich an dem Grab zu schaffen macht, zu einer Frau werden wird. In diesem Kontext ist der Wechsel der Geschlechtsidentität also eine negative Sache, eine Bestrafung. Aber immerhin haben die Wikinger*innen daran geglaubt, dass es möglich ist, das Geschlecht zu wechseln. Im 14. Jahrhundert – das ist jetzt allerdings eher Geschichte als Archäologie – schrieb ein jüdischer Gelehrter namens ben Kalonymus ein langes Gedicht, in dem er darüber klagt, dass Gott ihn zu einem Mann und nicht zu einer Frau gemacht hat.

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Können wir Geschlechterverständnisse aus der Geschichte mit unseren Konzepten von heute vergleichen?

Wir sollten nicht versuchen, alten Kulturen unser Verständnis von Geschlecht aufzudrängen. Das haut nicht hin. So haben Menschen in der Vergangenheit etwa nie die Dinge erlebt, die mir die moderne Medizin ermöglicht. Ich selbst nehme zum Beispiel Hormone. Dadurch bin ich eine völlig andere Person geworden, alles an mir hat sich verändert. Wir können nicht behaupten, Menschen hätten früher so gedacht wie wir, wenn sie einfach nicht dieselben Bedingungen vorfanden.

Da wir andere Konzepte von Geschlecht in der Vergangenheit vorfinden, stellt sich ja folgende Frage: Woher kommt es, dass wir, zumindest in Europa, bis vor Kurzem Geschlecht als binär und feststehend betrachtet haben?

Das Christentum. Die Religion. Ich gebe zu: Für mich ist Religion ein System, um die Menschen zu kontrollieren. Ein Beispiel dafür ist die Idee, dass man eine Frau und Kinder haben muss, um in den Himmel zu kommen. Ich habe nichts gegen die Gründung einer Familie, habe selbst eine Partnerin, mit der ich – noch vor meiner Transition – vier Kinder bekommen habe. Wir sind immer noch zusammen. Aber es gab und gibt auch andere Lebensentwürfe, die auch akzeptiert werden sollten.

Sie hatten Ihr Coming-out als trans Frau im Jahr 2021. Hat Ihre eigene Geschichte mit Ihrem Interesse an diesem Thema im Bereich der Archäologie zu tun?

Wenn man sich als trans outet, ist man plötzlich mit einer Vielzahl von neuen Konzepten konfrontiert. Ich habe davon einiges nicht verstanden, und wenn ich etwas nicht verstehe, lese ich darüber. Außerdem bin ich der Meinung, dass alles eine Archäologie hat – stellen Sie mir eine Frage und ich finde dazu eine archäologische Referenz! Insofern war ich mir sicher, dass es auch eine Archäologie von Gender gibt. Und tatsächlich: Je mehr ich nachgeforscht habe, desto mehr Material habe ich zu diesem Thema gefunden.

Seit wann wird denn das Thema Geschlecht in der Archäologie bearbeitet?

Gender ist in der Archäologie ein recht neues Thema, es wird erst seit etwa 20 Jahren beforscht. Aber heute wird immer mehr dazu gearbeitet, was man zum Beispiel daran erkennen kann, dass es auf der Tagung der European Association of Archeologists immer mehr Talks zu Geschlechterthemen gibt.

Manchmal schreiben transfeindliche Menschen in sozialen Netzwerken: Egal, als was sich jemand jetzt identifiziert – wenn Menschen in 1000 Jahren ihr Skelett ausgraben, werden sie wissen, was das »wahre Geschlecht« der Person ist. Was ist Ihre Antwort zu solchen Aussagen?

Ich bin Archäologin, also können Sie mir glauben, dass ich so etwas schon oft gehört habe. Meine Antwort: Nehmen wir an, ich selbst würde mumifiziert und mein Gewebe bliebe erhalten. Dann würde man irgendwann einen Körper mit einer weiblichen Brust und einem männlichen Geschlechtsorgan finden. Und nun? Das Skelett sagt einfach nichts über das Geschlecht einer Person aus. Das hat es auch nie getan. Außerdem würden die Archäolog*innen der Zukunft wahrscheinlich ohnehin nicht nur mein Skelett finden, sondern mein ganzes Grab, inklusive eines Grabsteins und vielleicht mit ein paar persönlichen Dingen, die dann wirklich etwas über mein Geschlecht aussagen.

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