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»Yomiuri Shimbun«: Die Lenker Japans
Wirtschaftliche und politische Interessenkonflikte prägen die weltgrößte Tageszeitung »Yomiuri Shimbun«
Zu runden Geburtstagen gönnt man sich etwas Größeres: Bei »Yomiuri Shimbun« ist es ein neues Flugzeug. Seit April können die Journalistinnen der konservativen Tageszeitung aus Tokio in den eigenen Jet steigen, wenn sie es besonders eilig haben und Taxis oder der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen nicht schnell genug sind. Millionen Leser müssen mit ganz aktuellen News versorgt werden.
»Wir sind Japans führende Zeitung«, erklärt Tsuneo Watanabe (97), seit beinahe vier Jahrzehnten Chefredakteur. Eine Untertreibung: Mit einer täglichen Auflage von rund 6,6 Millionen Exemplaren ist »Yomiuri Shimbun« – der Name setzt sich aus der alten Tradition des »Verkaufens durch Vorlesen« und »Zeitung« zusammen – weltweit mit Abstand die Nummer eins. Direkt dahinter folgt die japanische Konkurrentin »Asahi Shimbun«, gefolgt von einem indischen Blatt.
Ist ein eigenes Flugzeug zusätzlich zum bereits vorhandenen Helikopter Größenwahn? Ein Sprecher des Unternehmens erklärt nüchtern: »Bei der Nutzung kooperieren wir mit unseren anderen Medien wie Nippon Television.« Denn »Yomiuri« hat nicht nur einen großen Fuhrpark, auch das Portfolio an Unternehmen ist riesig. Im Medienbereich gehören auch Nippon Television, der älteste private Fernsehsender Japans, die führende Sporttageszeitung »Sports Hochi«, mehrere Magazine sowie regionale TV- und Radiokanäle zur Yomiuri-Holding. Sie ist die größte der »großen fünf« Mediengruppen Japans, die allesamt aus Printmarken und TV-Kanälen bestehen.
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Wobei im Fall von »Yomiuri« selbst der Begriff Medienkonzern fast schon in die Irre führt. Chefredakteur Watanabe beschreibt die Mission zwar als das »Prägen einer fundierten öffentlichen Meinung, um die Demokratie zu untermauern«. Der Mann, den das britische Magazin »Economist« mal als den »mächtigsten Herausgeber, von dem Sie noch nie gehört haben«, bezeichnete, sagt aber auch: »Damit wir ständig in der Lage sind, unsere Rolle auszuführen, haben wir diversifiziert und unsere Geschäfte jenseits der Zeitung gestärkt.« Yomiuri ist heute eine Gruppe mit 150 Unternehmen von Medienmarken über Freizeitparks und Hotels bis zum Sportgeschäft. Wer Yomiuri lenkt, so sagt man in Japan, lenkt auch das ganze Land.
Als sich die Zeitung 1874 gründete, hatte sich Japan nach zweieinhalb Jahrhunderten politischer Isolation gerade erst der Welt geöffnet. Die Meiji-Reformen ab 1868 schafften die Ständegesellschaft um die Samurai ab, führten ein Parlament ein. Zu einer demokratischen Gesellschaft, das hatten die Eliten auf ihren Studienreisen durch Europa gelernt, zählte auch eine kritische Presse. Über die Jahre stand die Zeitung mehrmals vor dem Ruin – als das zweistöckige Redaktionsgebäude im Tokioter Geschäftsviertel Toranomon 1923 bei einem Erdbeben einstürzte wie auch bei den US-Luftangriffen kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs. Als das Unternehmen 1924 fast bankrott gewesen war, kaufte der hohe Polizeibeamte Matsutaro Shoriki die Zeitung. Und er führte sie nicht als Journalist, sondern als Geschäftemacher. War sie auch eine führende Tageszeitung seit den 1940er Jahren im Faschismus, bemerkte man im Haus früh, dass dies nicht ausreichen würde, um die langfristige Existenz zu sichern.
Shoriki, der nach dem Zweiten Weltkrieg wegen seiner Regime-Nähe als Kriegsverbrecher angeklagt wurde, sollte zu einer prägenden Figur in Japans Nachkriegszeit werden – und in der Geschichte kommerzieller Medien. Er führte in der Zeitung eine tägliche Seite mit dem Radioprogramm ein und weitete das Berichtsgebiet auf die ganze Welt aus. Der Stil war unterhaltsam und einfach verständlich. Mit den steigenden Erlösen aus dem Zeitungsgeschäft investierte Shoriki ab den 1930er Jahren groß in den boomenden Baseballsport und gründete den bis heute größten Klub des Landes – die Yomiuri Giants.
»Das Geflecht zwischen der Baseballmannschaft und der Zeitung ist fragwürdig.«
Yasuhiro Inoue Medienwissenschaftler
»Das Geflecht zwischen der Baseballmannschaft und der Zeitung ist fragwürdig«, kommentiert Yasuhiro Inoue, Professor für Medienwissenschaften an der Hiroshima City University. Nicht nur haben Yomiuri-Journalisten auffallend häufig Exklusivinformationen aus der Baseballtruppe, über die dann groß in den konzerneigenen Medien berichtet werde. Auch sollen sich Baseballklub und Zeitung immer wieder querfinanziert haben. »Aber Interessenkonflikte gibt es auf so vielen Ebenen«, sagt Koichi Nakano, Politologe an der Sophia-Universität in Tokio. So wurde Matsutaro Shoriki in den 1950er Jahren zum ersten Vorsitzenden der japanischen Atomenergiebehörde erklärt. Die Medien des Konzerns schreiben bis heute positiv über Atomkraft und negativ über deren Kritiker.
Shorikis direkte Verbindung in die Politik hat auch bis heute zur Folge, dass die Yomiuri-Medien der übermächtigen Liberaldemokratischen Partei (LDP) nahestehen. Große Enthüllungsgeschichten stellen sich eher selten als unangenehm für die LDP heraus. Dafür hat die Zeitung schon mehrmals Entwürfe für eine neue Verfassung abgedruckt, inklusive einer von nationalistischen Kräften gewünschten Stärkung des Militärs.
Die Nähe zur Macht hat »Yomiuri« wirtschaftlich geholfen. Aber ist eine Investition in ein neues Flugzeug nicht trotzdem ein Zeichen für spätrömische Dekadenz? Denn auch in der Zeitungslesernation Japan sind die Printauflagen über das vergangene Jahrzehnt um ein Drittel auf insgesamt 30 Millionen Exemplare pro Tag gefallen. TV-Sender klagen über sinkende Werbeerlöse. Dank der alternden Gesellschaft – in Japan sind schon drei von zehn Menschen 65 Jahre oder älter – wird das Printgeschäft zwar noch mehrere Jahre hohe Einnahmen abwerfen, aber junge Menschen lesen eher online, wo »Yomiuri« nicht zu den Marktführern gehört.
Doch das muss Chefredakteur Watanabe nicht unbedingt beunruhigen. Die Konzerngruppe vermeldete 2023 einen Umsatz von umgerechnet 1,6 Milliarden Euro. Das Geschäft mit den Freizeitparks, Hotels, Shoppingcentern oder der Baseballmannschaft dürfte auch in fernerer Zukunft noch viel Geld einbringen.
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