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Ungleich wie das Bruttoinlandsprodukt
Menschenleben werden trotz gegenteiliger Beteuerungen von Politik und Medien extrem ungleich bewertet, kritisiert Yossi Bartal
Am 24. Oktober 2023 hielt die deutsche Außenministerin eine bemerkenswerte Rede vor dem UN-Sicherheitsrat. Nur zweieinhalb Wochen nach dem Hamas-Massaker, bei dem fast 1 200 Zivilisten und Soldaten getötet wurden, sprach sie über den tiefen Schmerz, der »sich durch den Nahen Osten zieht«, sowie über die zahlreichen palästinensischen und israelischen Opfer, denen wir gleichermaßen Empathie entgegenbringen sollten. Während sie vor der Weltgemeinschaft sprach, lieferte Deutschland tonnenweise Panzermunition und andere Kriegswaffen an die zerstörerische israelische Offensive, die an diesem Tag bereits rund 5800 Todesopfer forderte, von denen mehr als die Hälfte Frauen und Kinder waren. Nichtsdestotrotz betonte die Ministerin, dass »das Leben aller Zivilistinnen und Zivilisten gleich viel wert« sei.
Yossi Bartal ist seit 2006 ein begeisterter Wahl-Neuköllner. Aufgewachsen in West-Jerusalem lernte er früh, dass Selbsthass die edelste Form des Hasses ist. Mit einer gesunden Dosis Skepsis gegenüber Staat und Gesetz schreibt er für nd.Digital jeden dritten Montag im Monat über Parallelgesellschaften, (Ersatz-) Nationalismus und den Kampf für eine bessere Welt.
Offensichtlich stimmte das nicht. Aufgrund von Herkunft, Staatsbürgerschaft, Hautfarbe und vielen anderen Faktoren ist das Leben von Zivilisten – und das nicht nur in Israel und Palästina – keineswegs »gleich viel wert«. Als ethische Festlegung für die eigene Politik lässt sich diese Behauptung noch kaum an Zynismus übertreffen. Erst kürzlich rechtfertigte Baerbock, die Mutter von zwei Schulkindern, die Bombardierung von Schulen und anderen Zufluchtsorten in Gaza, falls sich dort, nach israelischen Angaben, Terroristen aufhalten sollten. Solche völkerrechtswidrigen Angriffe haben bereits das Leben von mehreren Tausend Zivilisten gefordert. Dennoch beteuerte die Ministerin abschließend, die Menschenwürde aller Menschen sei Grundlage der deutschen Politik.
Es sind seltsame Zeiten: Während Israels rechtsextreme Regierung unverhohlen ihre völlige Missachtung für palästinensisches Leben zum Ausdruck bringt und ihre Vertreibung durch Hunger und Bomben forciert, betonen Amtsträger in den USA und Deutschland, dass die Menschen in Gaza ebenso wie die Israelis ein Recht auf ein Leben in Frieden und Freiheit haben. Trotz ihrer universalistischen Versprechungen unternehmen sie jedoch militärisch und diplomatisch fast alles, um sicherzustellen, dass der Massenmord, den Uno-Institutionen bereits als Genozid und Vernichtung einstufen, ungehindert fortgesetzt wird.
Das Beharren auf Gleichheit, während das eigene Handeln unbestritten das Gegenteil produziert, ist keine Besonderheit der herrschenden Politik. Auch Medienschaffende, die diese extreme Ungleichheit reproduzieren, versichern sich ständig, dass ihre Berichterstattung von Ausgewogenheit geprägt ist. So stellten in einem Podcast im November 2023 zwei Tagesspiegel-Redakteurinnen überraschend fest, dass kaum jemand auf der Sonnenallee in Berlin-Neukölln bereit war, mit deutschen Journalisten zu sprechen. Der Grund: Man warf ihnen vor, nur einseitig über den Israel-Palästina-Konflikt und die damit verbundenen Proteste zu berichten. Dies haben die beiden Journalistinnen vehement zurückgewiesen und beteuert, dass sie stets reflektiert und objektiv berichteten – auch wenn sie als Deutsche eine besondere Verpflichtung gegenüber Israel empfänden. Denn »ausgewogen zu bleiben ist letztendlich unser Job«.
Trotz universalistischer Versprechen unternehmen die Regierungen der USA und der EU militärisch und diplomatisch fast alles, um sicherzustellen, dass der Massenmord in Nahost ungehindert fortgesetzt wird.
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Auch der leitende Redakteur der Süddeutschen Zeitung, Ronen Steinke, proklamierte kürzlich während einer Diskussion bei Spiegel TV, dass »ein Menschenleben in Gaza genauso viel zählt wie ein Menschenleben in einem Kibbuz«. Ein Blick in die Seiten der Qualitätszeitung zeigt jedoch deutlich, dass das Leben eines Israelis und das eines Palästinensers in einer drastisch ungleichen Relation steht. Obwohl nach den konservativsten Schätzungen 40-mal so viele palästinensische wie israelische Zivilisten im letzten Jahr getötet wurden, erhielten Opfer aus Gaza – ihre Namen, Geschichten und Bilder – deutlich weniger Raum als die der ermordeten und entführten Israelis.
Dabei ist die Süddeutsche keine Ausnahme. Dass deutsche Medien im letzten Jahr extrem asymmetrisch über diesen asymmetrischen Krieg berichtet haben, stellte auch Kai Hafez, Professor für Vergleichende Analyse von Mediensystemen, in einem Interview mit Übermedien fest. Wie viel Raum wird Menschen auf beiden Seiten des Konflikts eingeräumt – als Täter oder als Opfer? Aus welchen Quellen stammen die Berichte, und wer gilt als vertrauenswürdig? Und werden überhaupt Fehler in der Berichterstattung korrigiert? Obwohl es in Deutschland zahlreiche Institutionen zur Medienforschung und Kommunikationswissenschaften gibt, fehlen dennoch bis heute systematische Analysen dazu.
Sicher ist eins: Auslandsressorts funktionieren nirgendwo nach der Prämisse der Gleichwertigkeit aller Menschen. Man braucht nur den Unterschied zu betrachten: Wie viele Meldungen gab es in den letzten Wochen zum Hurrikan in Florida im Vergleich zu den Berichten über die katastrophalen Überschwemmungen in Westafrika? Wie wurden sie visualisiert und wie viel prominenter waren sie platziert? Zwar produziert jedes Land auf der Welt eine Fülle brisanter Nachrichten und bietet Potenzial für tiefgehende Reportagen. Dennoch nehmen wir es fast selbstverständlich hin, dass wir über bestimmte Länder viel mehr erfahren, oft weil sie uns – nicht nur geografisch – »näher« sind, was häufig bedeutet: wohlhabender und überwiegend weiß. Ärmere Länder finden viel seltener Platz im Nachrichtenzyklus – es sei denn, dort laufen irgendwelche gefährlichen Gestalten herum, die europäische Interessen gefährden.
Das Land zwischen Fluss und Meer leidet hingegen nicht unter fehlender Medienaufmerksamkeit. Ganz im Gegenteil: Westliche Medien, insbesondere deutsche, berichten scheinbar mehr über den Israel-Palästina-Konflikt als über die meisten europäischen Nachbarländer zusammen. Dafür gibt es zahlreiche Gründe, die mehr oder weniger nachvollziehbar sind. Dennoch wird auch dort die reale Ungleichheit vor Ort in unseren Medien reproduziert. Es wäre nicht überraschend, wenn das Verhältnis der medialen Vermenschlichung beider Seiten letztendlich mit dem jährlichen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von Israel (55 000 Dollar) und Palästina (3 800 Dollar) korreliert.
Ob eine tatsächliche Gleichbehandlung durch die deutsche Politik oder die Medien je zu erwarten ist, bleibt dahingestellt. Wenn Berichte über das Schicksal palästinensischer Opfer ebenso ausführlich wären wie jene über jüdische Israelis, müsste die Süddeutsche Zeitung oder Tagesspiegel täglich mehrere Extra-Seiten drucken – ganz zu schweigen von den Geschichten über Menschen im Sudan. Es wäre jedoch angebracht, uns nicht selbst zu belügen und zu behaupten, das Leben aller Menschen auf dieser Welt sei für unsere Politiker und Redakteure gleich viel wert.
Erst wenn wir anerkennen, dass der Westen unter dem Banner universalistischer Werte und eines uneingelösten Gleichheitsversprechens extreme Ungleichheit und Brutalität in der Welt hervorbringt, können wir vielleicht beginnen, die Lebensrealitäten und daraus resultierenden politischen Überzeugungen jener Menschen zu verstehen, die von unseren staatlichen und medialen Institutionen in der Praxis als wertlos angesehen werden. Es lässt sich nur hoffen, dass diese Erkenntnis zu weniger Heuchelei und einem geringeren Überlegenheitsgefühl führt. Und das mag bereits der erste Schritt hin zu einer Welt sein, in der das Leben jedes Menschen wirklich gleichwertig ist und vor Gewalt geschützt wird.
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