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Wer übernimmt die Hamas-Führung?
Der getötete Jahja Sinwar gilt vielen in der arabischen Welt als Märtyrer, der den Geist des Widerstandes reaktiviert
Nach dem Tod von Israels Staatsfeind Nummer eins, Jahja Sinwar, haben sich die Hoffnungen auf ein Kriegsende in Gaza nicht erfüllt. Zwar hatten israelische Diplomaten offenbar am Wochenende wieder mit Vermittlern aus Katar und Ägypten Kontakt aufgenommen. Doch weder ist die Anzahl der noch lebenden israelischen Hamas-Geiseln bekannt, noch haben die israelische Regierung und die Führung der Miliz Bereitschaft einen Kurswechsel erkennen lassen.
Die ebenfalls durch gezielte Morde an ihrem Führungspersonal geschwächte libanesische Hisbollah-Miliz kündigte sogar an, die Angriffe auf den Norden Israels zu verstärken. Am Sonntagvormittag schlugen in dem Grenzort Schlomi und anderen Städten 30 Raketen ein, am Samstag feuerte die nun in unabhängige Einheiten zerfallene Miliz 100 Geschosse auf Zentralisrael.
Nach dem Einschlag einer Drohne in der Nähe seines Wohnhauses in der Stadt Caesarea droht Premier Benjamin Netanjahu dem Iran und seinen Verbündeten mit Vergeltung. Der angebliche israelische Plan für einen Angriff auf den Iran war am Samstag von einem pro-iranischen Telegramm-Kanal veröffentlicht worden. Regierungskreise in Washington bestätigten die Authentizität des mehrstufigen Plans, der Luftangriffe im gesamten Land vorsieht. Wie das geheime Dokument an die Öffentlichkeit gelangte, ist derzeit unbekannt.
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Im Schatten des Todes von Jahja Sinwar und der möglichen regionalen Eskalation findet die derzeit im Norden Gazas stattfindende Tragödie kaum Beachtung: Rund 400 000 Palästinenser werden seit zwei Wochen von israelischen Truppen belagert. In den wenigen intakt gebliebenen Gebäuden hungern die Schutzsuchenden, ihr Weg in den Süden ist durch Kämpfe und israelischen Beschuss versperrt.
Am Sonntag starben nach palästinensischen Angaben allein im Ort Beit Lahia mindestens 87 Menschen bei Luftangriffen. Die israelische Armee widerspricht in einer Mitteilung der Darstellung der palästinensischen Seite. Man prüfe weiterhin die »von Hamas-Quellen verbreiteten Informationen«. Diese hätten sich bei früheren Vorfällen als »äußerst unzuverlässig« erwiesen. Es handele sich um ein »aktives Kriegsgebiet«, betonte die Armee. Man gehe »präzise« vor und tue alles, »um Schaden für die Zivilbevölkerung zu vermeiden«, hieß es routinemäßig.
Israel wolle den Norden des Gazastreifens ethnisch säubern, warnt das in Katar tagende Politbüro der Hamas. Die in Gaza verbliebenen privaten Hilfsorganisationen und UN-Mitarbeiter sprechen von einer humanitären Katastrophe. Der Koordinator der Vereinten Nationen im Gazastreifen, Tor Wennesland, verurteilt die Luftangriffe und fordert ein sofortiges Ende des »Horrors«, den die Bomben verursachen. Tatsächlich hatte die israelische Armee alle Bewohner von Nord-Gaza zur Flucht aufgerufen und ein Aushungern der verbliebenen Hamas-Kämpfer angekündigt.
Die Inkaufnahme des Tods von Zivilisten in Nord-Gaza lässt die seit langem größte israelische Erfolgsmeldung zur Randnotiz werden: das Ende des Drahtziehers des Angriffs auf israelische Kibuzze und das Supernova-Musikfestival am 7. Oktober vergangenen Jahres. In der arabischen Welt wird Jahja Sinwar sogar als Held gefeiert.
Der 62-Jährige dirigierte nach Überzeugung israelischer Medien den Guerilla-Widerstand gegen die militärisch überlegene Armee aus den Bunkern unterhalb des Gazastreifens. Die Gegner der Hamas im Gazastreifen, in der Region und in Israel kritisieren, dass die Miliz ihren Widerstand aus dem sicheren Bunkersystem unterhalb von Gaza heraus organisiert, während die Zivilbevölkerung schutzlos in Schulen und Zeltstädten den israelischen Bomben ausliefert ist. Jahja Sinwar sei ständig von mehreren scharfen Sprengsätzen und bis zu 25 israelischen Geiseln umgeben, hieß es zuletzt aus Regierungskreisen in Jerusalem. Damit solle ein israelischer Raketenangriff auf ihn verhindert werden.
Um den Eindruck eines gescheiterten und feigen Terroranführers weiter zu verstärken, veröffentlichte die israelische Armee am Donnerstag die letzten Momente im Leben des am 6. August zum Anführer der Hamas gewählten Sinwars. Die Aufnahmen einer Drohne zeigen einen offenbar zufällig aufgespürten Mann in verstaubter Uniform, das Gesicht von einem Palästinensertuch verhüllt. Im ersten Stock eines schwer beschädigten Hauses kauert er auf einem Sessel, der rechte Arm ist so schwer verletzt, dass Blut auf den Sessel trieft. Sinwar scheint allein zu sein. Als er das Summen der Drohne bemerkt, versucht er, diese mit einem Stück Holz zu treffen.
In westlichen Medien erfüllen die Bilder die gewünschte Wirkung. Schnell wurde über die nun mögliche Freilassung der Geiseln spekuliert. Die zurückhaltende Freude in Tel Aviv und Jerusalem zeigt vor allem die von den Angehörigen der Geiseln geäußerte Furcht, dass sich wie nach dem Tod von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah erst einmal nichts ändern wird.
Bei den Regierungen in der arabischen Welt wurde Sinwar als religiöser Hardliner und wegen seiner Nähe zur Ideologie der Muslimbrüder meist kritisch gesehen.
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Bei den Regierungen in der arabischen Welt wurde Sinwar als religiöser Hardliner und wegen seiner Nähe zur Ideologie der Muslimbrüder meist kritisch gesehen. Auf den Straßen von Kairo, Tunis oder Dschidda wünschen sich viele ein Ende der täglich eintreffenden Bilder toter Zivilisten aus dem Gazastreifen. Wegen der vielen von israelischen Bomben und Scharfschützen getöteten Kinder auf den Armen ihrer Eltern stieg auch im Gazastreifen der Druck auf die Hamas, einem Waffenstillstand zuzustimmen. Dass ein Großteil der Hamas-Führung in teuren Hotels im katarischen Exil lebt, schadete ihrem Ruf zusätzlich.
Doch das Video des einsam und bis zum letzten Atemzug kämpfenden Jahja Sinwar hat in nur wenigen Stunden einen neuen Mythos erschaffen. In den millionenfach geteilten Aufnahmen sehen viele einen bis zum letzten Atemzug gegen eine überlegene Militärmacht antretenden Widerstandskämpfer.
Als möglicher Nachfolger des vom Internationalen Strafgerichtshof gesuchten Sinwars stehen mehrere Kandidaten aus dem in Katar tagenden Hamas-Politbüros bereit. Seit dem Mord an Ismail Hanijeh in Teheran ist derzeit auch noch die Position des Chefunterhändlers für mögliche neue Waffenstillstandsverhandlungen vakant. Es wird wohl von der Persönlichkeit des Nachfolgers abhängen, wie und ob der Gaza-Krieg weitergeht. Der ultrakonservative Hamas-Mitgründer Mahmud Al-Zahar gibt sich kompromisslos, Sinwars Bruder Mohammad steht dagegen für die Fortsetzung der Verhandlungen mit Israel. Unter einem Dutzend anderer Kandidaten gilt Politbüro-Mitglied Khalil Al-Hayya als Favorit, auch er will weitere Verhandlungen mit Israel.
Doch in den Städten des Westjordanlands wie Nablus und Dschenin haben sich nach dem Tod von Jahja Sinwar so viele junge Palästinenser dem bewaffneten Widerstand angeschlossen wie nie zuvor seit dem 7. Oktober.
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