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Gefühle ohne Schweigepflicht
Zur Verteidigung des Schlagers
Eine befreundete Sozialarbeiterin erzählte mir einmal, dass eine ihrer Klientinnen überzeugt davon war, Freddy Quinn wohnte über ihr. Des Nachts beschalle er sie mit eletromagnetischen Strahlen, um sie derart zu manipulieren, dass er ihr all ihr Geld abluchsen könne. »Heißt die Frau vielleicht Adorno?«, fragte ich, aber leider nein.
Der Schlager hat einen sehr schlechten Ruf, obwohl (oder vermutlich gerade weil) er immer noch das drittbeliebteste Genre in Deutschland ist. Knapp 50 Prozent aller hierzulande Lebenden geben an, dass sie gerne Schlager hören. Trotzdem finden sich kaum Einlassungen, die für den Schlager Partei ergreifen. Was es aber zuhauf gibt, sind Totalverrisse der Gattung.
Die Kritik am Schlager setzt schon deutlich vor Adorno ein, bekommt aber mit ihm die seither spezifische Würze. In seiner »Einleitung in die Musiksoziologie« heißt es: »Nicht nur appellieren die Schlager an eine lonely crowd, an Atomisierte. Sie rechnen mit Unmündigen; solchen, die des Ausdrucks ihrer Emotionen und Erfahrungen nicht mächtig sind; sei es, dass Ausdrucksfähigkeit ihnen überhaupt abgeht, sei es, dass sie unter zivilisatorischen Tabus verkrüppelte. Sie beliefern die zwischen Betrieb und Reproduktion der Arbeitskraft Eingespannten mit Ersatz für Gefühle überhaupt, von denen ihr zeitgemäß revidiertes Ich-Ideal ihnen sagt, sie müssten sie haben.«
Intellektuell hat Adorno den Schlager hiermit erledigt. Die Publikationsgeschichte zum Schlager besteht fortan fast ausschließlich aus Pamphleten und Polemiken, und Forschende, die sich dem Thema wissenschaftlich nähern, kommen selten ohne ein sich vorsichtig verteidigendes Vorwort aus.
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Peter Rühmkorf nannte den Schlager »verbrecherische Volksverdummung«. Und Elfriede Jelinek zog über Udo Jürgens vom Leder: »der mittelständische udo jürgens-botschaftsempfänger der seine austauschbarkeit nicht wahrhaben kann und will und den seine fungibilität persönlich auch von jeder eigenverantwortlichkeit befreit und mit der anonymität eines verwalteramtes zudeckt. Nicht verändern sondern sich arrangieren und liebdienerei sowie opportunismus, so sagt es udo jürgens. Auch wenn sich die kleinbürgerlichen träume nicht erfüllen sollten wenn die ›liebe zu ende geht‹ wenn die ›hoffnung‹ kaputt geht oder wenn das allgewaltige ›schicksal‹ zuschlägt auf den der weder willens noch fähig ist es selbst in die hand zu nehmen: udo sagt dann nur – ›vertrau der zeit!‹ die wird’s schon richten.«
Im Ton etwas gemäßigter, aber inhaltlich vernichtender wurde Friedrich Kienecker: »Nicht nur primitive Ichsucht und unwürdiger Hedonismus geben dem Weltbild des Schlagers das Gepräge, sondern dahinter steht ein verborgenes Wissen, dass diese Welt nicht so ist, wie sie sein sollte, das Leid der Verbannung aus dem Paradies, die Sehnsucht nach ewiger Erfüllung. Das Weltbild des Schlagers ist nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Anklage. Es scheint, als habe sich die abendländische Intelligenz (wenn dieser summarische Ausdruck erlaubt ist) im Laufe der Jahrhunderte so sehr auf sich selbst zurückgezogen, dass zwischen ihrer Welt und der Welt des Jedermann der Zusammenhang verloren gegangen ist.«
Unmündigkeit, verkrüppelt, Verdummung, primitiv, unwürdig: Mit Ausnahme Jelineks greifen alle Zitate auf ableistische Tropen zurück, sagen alle zitierten Kritiker an dieser Stelle mindestens zwischen den Zeilen, dass der Schlager irgendwie behindert ist und auch behindert macht. Der Witz an dieser Art der übertriebenen Polemik ist, dass sie selbst verstärkt und weiterführt, wovor sie zu warnen scheint: die wortgewaltige Stigmatisierung des Schlagers, die im Gewand einer intellektuellen Restverteidigung daherkommt und die der Barbarei des Schlagers nur dadurch zu begegnen weiß, dass sie wort- und pointenreich die Unterlegenheit dieses Kulturerzeugnisses geißelt, in der Hoffnung, es möge eine Rückbesinnung geben. Wenn es um Schlager geht, klingen Linke und Progressive sehr oft wie konservative Pfaffen.
Der Schlager ist und war vor allem derart erfolgreich, dass es schwer ist, ihn konkret zu fassen. Elfriede Jelinek hat das Richtige getan und ihn derart ernst genommen, dass sie nur über Udo Jürgens geschrieben hat, der ein klar abgrenzbares Werk hinterließ. Ich werde den Fehler der männlichen Kritiker wiederholen und versuchen, über den Schlager als Ganzes zu sprechen, obwohl niemand genau die Grenzen zum Kunstlied, zum Chanson, zum Pop, zur Volksmusik ziehen kann. Was Schlager ist und was nicht, entscheidet sich immer hinterher; und auch jemand wie Rio Reiser musste sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass er nach Ton Steine Scherben zu sehr in diese dunkle Gasse der deutschen Volksseele gegangen sei.
Eine Metadatenanalyse hat ergeben, dass im Schlager folgende Worte und damit verbundene Konzepte am häufigsten auftreten (das gilt übrigens interessanterweise für Ost und West gleichermaßen): ich – du – nicht – wir – gehen. Im Schlager geht es um Intimität, um Träume des Beisammenseins, um eine unpolitische Privatheit. Es geht tatsächlich nur, um Jelinek etwas entschärft zu paraphrasieren, um das kleine Glück, um eine Art von Eskapismus in der Liebe oder in die Ferne. Es sind unschuldige Träume eines schuldigen Volkes; eines Volkes, von dem man annehmen muss, dass es wie so oft in seiner Geschichte über das Schunkeln das Marschieren lernt.
Aber Udo Jürgens’ Musik ist keine, zu der marschiert werden könnte. Das Angebot zur Träumerei, zu der er verleitet, richtet sich auch nicht ausschließlich ans Kleinbürgertum, wie Jelinek glaubte; ich habe in meinen zehn Jahren als Betreuer für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung so gut wie niemanden in diesem Kontext kennengelernt, der oder die Udo Jürgens schlecht oder verlogen findet. Schlager ist oft genug Trost, und den spendet Udo Jürgens.
Es ist natürlich wahr, dass diese Musik, die versucht, die Bedürfnisse und Träume des Publikums in Worte und mitklatschbare Rhythmen zu fassen, gelogen ist. Hier zeigt sich kein Ich, es zeigt sich eine Art kollektiver Traum. Aber anders als die Kritik suggeriert, ist diese Art des Träumens durchaus ernst gemeint: zumindest so ernst, dass, wenn man auf Dörfer fährt, dort nur Konzerte stattfinden mit Schlagerfritzen (oder Coverbands). Die Kritik an der Janusköpfigkeit des Kulturbetriebs, die sich bei Adorno und Konsorten findet, ist ohnehin obsolet: Sie hat alle Bereiche bereits erfasst. Der Hass auf den Schlager ist inzwischen ein Hass auf die unteren Schichten, der aber dank Adorno höhere Weihen erhielt und sich deswegen unreflektiert gehalten hat.
Mir scheint der Schlager ein Honigtopf zu sein. Die Wut auf den Schlager könnte daher stammen, dass er in seiner privaten Klebrigkeit Aufstände verhindert, die – gäbe es ihn nicht – aber ohnehin nie stattgefunden hätten. Kurt Tucholsky hat das ganz gut zusammengefasst, als er sagte: »Alles am Schlager ist echt, weil es so wunderschön falsch ist.«
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