Die Unbeugsame

Die Venezolanerin Maryan ist 16 Jahre alt und hat viel Gewalt erlitten. Doch sie glaubt an eine Zukunft

  • Philipp Hedemann, Ipiales
  • Lesedauer: 8 Min.
Maryan kann im SOS-Kinderdorf in der kolumbianischen Kleinstadt Ipiales zur Ruhe kommen. Bald möchte sie wieder zur Schule gehen.
Maryan kann im SOS-Kinderdorf in der kolumbianischen Kleinstadt Ipiales zur Ruhe kommen. Bald möchte sie wieder zur Schule gehen.

»Hier schlägt mich niemand. Ich muss keine Angst haben, vergewaltigt oder ausgeraubt zu werden. Ich kriege drei Mahlzeiten am Tag, es gibt Menschen, die sich um mich kümmern und mich akzeptieren, so wie ich bin. Es ist das beste Leben, das ich je hatte.« Maryan (Name geändert) ist 16 Jahre alt. In ihrem Leben wurde die Venezolanerin schon oft enttäuscht, ausgebeutet und missbraucht. Im SOS-Kinderdorf in Ipiales in Kolumbien glaubt sie erstmals daran, dass es auch Menschen gibt, die es gut mit ihr meinen.

Maryan ist eines von über 880 000 Jungen und Mädchen, die in den letzten zwölf Jahren vor dem immer autoritärer regierenden Präsidenten Nicolás Maduro und der sich verschärfenden Staats- und Wirtschaftskrise in Venezuela ins Nachbarland Kolumbien geflohen sind. Tausende von ihnen wurden seitdem von bewaffneten Drogenbanden zwangsrekrutiert, andere zur Prostitution oder Kinderarbeit gezwungen.

Maryan ist erst zwei Wochen alt, als ihre Mutter sie nicht mehr haben will, sie an einer Straßenecke aussetzt. So hat man es ihr erzählt. Was Maryan sich merkt: Niemand mag mich. Selbst meine eigene Mutter wollte mich nicht! Ob das wirklich stimmt, weiß sie nicht. Sie hat ihre Mutter nie kennengelernt. Sie sei an Krebs gestorben, hat man ihr erzählt.

Maryan kommt in ein staatliches Kinderheim, wird als Baby adoptiert. Ihr Adoptivvater nimmt aber Drogen, schlägt sie – mal mit der Faust, mal mit dem Gürtel. Noch mehr als die Schläge schmerzen Maryan seine Worte: »Eine Tochter wie dich habe ich nie gewollt! Du bist ein Nichts!«

Nachdem ihr Adoptivvater in der venezolanischen Stadt Guanare wieder einmal auf sie eingeprügelt hat, beschließt Maryan, dass sie nicht mehr sein Opfer sein wird. Sie stopft ein paar Klamotten und eine Decke in ihren Pikachu-Rucksack und schleicht sich aus der Wohnung. Ihr Ziel: die kolumbianische Hauptstadt Bogotá. Dort will Maryan Arbeit finden. Sie ist 13 Jahre alt.

Das Mädchen klettert auf die hintere Stoßstange eines im Stau stehenden Lastwagens und klammert sich am Anhänger fest. Sie hofft, dass der Truck in Richtung Bogotá fährt. Spätestens nach drei Stunden zittern ihre Arme so sehr, dass sie sich nicht mehr festhalten kann und abspringen muss. »Einmal bin ich vom Lastwagen gefallen, einmal haben Verrückte – ich glaube, sie hatten Drogen genommen – uns mit Macheten geschlagen. Mir war klar, dass ich sterben könnte. Aber ich wollte lieber tot als zu Hause sein«, erzählt Maryan mit monotoner Stimme.

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Tagsüber fragt sie Menschen am Straßenrand nach Essen und Trinken. Sie wird beschimpft und bedroht, bekommt vergammeltes Essen. Nachts rollt sie ihre Decke vor Geschäften aus und wird verscheucht.

Nach vier Wochen erreicht sie Bogotá. Zusammen mit anderen Flüchtlingen übernachtet sie in einem Park. Bogota liegt auf 2600 Meter Höhe. Nachts wird es kalt, Maryan zittert unter ihrer dünnen Decke. Tagsüber putzt sie Wohnungen oder wäscht Autos, bekommt dafür umgerechnet rund 4,50 Euro pro Tag. Niemand fragt nach der Geschichte des 13-jährigen Mädchens ohne Papiere.

Nur eine Frau, die sie unter lauter jungen Männern im Park sieht, macht sich Sorgen, bringt sie in ein staatliches Waisenheim. »Dort war es schrecklich. Die Erzieherinnen haben mich nur angeschrien. Das hat mich an zu Hause erinnert. Da bin ich abgehauen«, erzählt die Ausreißerin.

Schließlich findet Maryan ein Zimmer in einer heruntergekommenen Wohnung in Ciudad Bolívar, dem ärmsten und gefährlichsten Stadtteil der Zehn-Millionen-Metropole. Kurz darauf schleicht sich nachts ihr Vermieter in ihr kleines Zimmer, drückt ihr seine große Hand auf den Mund und vergewaltigt sie.

Maryan spricht mit niemandem darüber, geht nicht zum Arzt, nicht zur Polizei. »Was hätten sie denn für mich tun können? Es interessiert sich doch niemand für mich. Ich habe nur gebetet, dass ich nicht schwanger und nicht krank werde«, erzählt sie.

Nach der Vergewaltigung verspürt sie zum ersten Mal Heimweh. Sie möchte ihre Adoptiv-Oma wiedersehen. Sie möchte sich jemandem anvertrauen, sie möchte, dass jemand sie in den Arm nimmt und tröstet. Wieder packt sie ihren Pikachu-Rucksack, wieder klettert sie auf eine Stoßstange. Doch als sie ein paar Wochen später ihre Oma wiedersieht, ist Maryans Vertrauen in die alte Frau verschwunden. »Ich hatte Angst, dass sie sagt, ich sei selber schuld. Darum habe ich ihr nichts erzählt«, sagt Maryan. Und sie kann es nicht ertragen, ihren Adoptivvater wiederzusehen. »Ich konnte ihm einfach nicht verzeihen. Hätte er mich nicht so schlecht behandelt, wäre all das nicht geschehen«, berichtet sie.

Maryan klettert wieder auf eine Stoßstange. Jetzt hofft sie, dass der Lastwagen nach Ecuador fährt. Wer hart arbeiten kann, kann dort in der Landwirtschaft gutes Geld verdienen, hat sie gehört. Maryan weiß, dass sie hart arbeiten kann.

Nach über 2500 Kilometern klettert sie in der ecuadorianischen Stadt Ventanas von der Stoßstange. Bald findet sie Arbeit. Von sechs Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags schleppt sie Wassermelonen. Jeden Abend bekommt sie dafür 15 US-Dollar. Sie ist das einzige Mädchen auf der Farm.

»Du bist ein unglaublich starkes Mädchen. Niemand hat dich brechen können.«

Ana-Mercedes Maryans SOS-Mutter

Nach zwei Jahren verspürt Maryan wieder dieses seltsame Gefühl. Es dauert, bis sie sich eingesteht, dass sie wieder Heimweh hat. Sie hat mittlerweile 150 Dollar gespart. Sie hofft, dass das Geld für einen Bus nach Venezuela reicht und sie nicht wieder auf einen Truck klettern muss.

Doch die mittlerweile 16-Jährige kommt nicht weit, bis sie von zwei Männern überfallen wird. »Ich wollte ihnen mein Geld nicht geben. Ich hatte zu hart dafür gearbeitet. Da schlugen sie mich mit der Faust ins Gesicht und klauten mir alles. Da konnte ich nicht mehr«, erzählt Maryan unter Tränen.

Blutüberströmt spricht sie zwei Polizisten an und gelangt so schließlich ins SOS-Kinderdorf im kolumbianischen Ipiales. Dort helfen Maryans SOS-Mutter Ana-Mercedes und ihre sechs SOS-Geschwister dem Mädchen, das Vertrauen in die Menschheit zurückzugewinnen. »Ich liebe dich, Maryan«, hat ihre gleichaltrige SOS-Schwester Jessica ihr auf den Arm gekritzelt. Wenn der meist schweigsamen Maryan plötzlich die Tränen über die Wangen laufen, nimmt ihre SOS-Mutter sie fest in den Arm, bis ihr Schluchzen verstummt ist.

»Ich bin noch nie in meinem Leben so gut behandelt worden. Ich habe das erste Mal das Gefühl, dass mich jemand wirklich mag«, sagt Maryan. Leise gesprochene Wörter voller Traurigkeit und Dankbarkeit, die auch SOS-Mutter Ana-Mercedes die Tränen in die Augen treiben.

»Es gibt nichts, auf das ich stolz sein kann«, sagt Maryan zu Ana-Mercedes. »Doch, Maryan! Du bist ein unglaublich starkes Mädchen. Niemand hat Dich brechen können«, antwortet Ana-Mercedes und drückt Maryan wieder fest an sich. Die erfahrene SOS-Mutter weiß, dass sie ihrem Schützling Zeit geben muss, damit die erlittenen Traumata heilen können. Schreiben, Zeichnen und Musik helfen der 16-Jährigen dabei. Mit ordentlicher Handschrift schreibt Maryan Gedichte in ein Notizheft. »Die Traurigkeit meines Herzens ist wie Sturm und Donner und dennoch vertrocknet mein Herz«, heißt es dort. Wenn Maryan singt, singt sie mit unendlich trauriger Stimme: »Ich bin so einsam wie ein Straßenhund, aber ich versuche, die Leere in meinem Herz zu füllen.«

Maryan wurde im SOS Kinderdorf in Ipiales aufgenommen, nachdem sie auf der Straße ausgeraubt und geschlagen wurde.
Maryan wurde im SOS Kinderdorf in Ipiales aufgenommen, nachdem sie auf der Straße ausgeraubt und geschlagen wurde.

Das Leben hat Maryan gezwungen, zu früh erwachsen zu werden, sich nur auf sich selbst zu verlassen, allem und jedem zu misstrauen. Mit Unterstützung von SOS-Kinderdörfer weltweit lernt sie jetzt langsam, die Kindheit nachzuholen, die sie nie hatte. SOS-Mutter Ana-Mercedes freut sich, dass Maryan immer häufiger nicht allein über ihrem Notiz- und Zeichenbuch brütet, sondern mit ihren SOS-Geschwistern auf der Schaukel oder auf dem Fußballplatz spielt.

Neben Liebe und Freundschaft ist Bildung die wichtigste Grundlage dafür, dass Maryans Leben noch eine gute Wendung nehmen kann. Ihre SOS-Mutter bemüht sich deshalb jetzt darum, alle notwendigen Papiere zu besorgen, damit Maryan, die nach der siebten Klasse die Schule abbrach, um der Gewalt ihres Adoptivvaters zu entkommen, wieder unterrichtet werden kann. Bis sie die Schule beendet hat, darf sie im SOS-Kinderdorf bleiben, anschließend kann sie in einer Wohngemeinschaft weiter betreut werden, SOS-Kinderdörfer unterstützt und finanziert sie während der Berufsausbildung oder eines Studiums. Viele Kinder nutzen diese Chancen, andere haben bereits zuvor so schwere psychische Schäden erlitten, dass sie es trotz ihrer Ersatzfamilie nicht mehr schaffen, stabile soziale Bindungen einzugehen.

Als Maryan vor vier Wochen mit blutverschmiertem Gesicht ins Kinderdorf kam, war sie körperlich und emotional erschöpft, wollte nur schlafen, nicht über ihre Zukunft nachdenken. Doch mittlerweile macht sie wieder Pläne: »Ich will Polizistin werden. Ich will Leuten helfen und sie beschützen. Und ich will dafür sorgen, dass Menschen, die Böses getan haben, bestraft werden.« SOS-Mutter Ana Mercedes glaubt fest daran, dass Maryan eines Tages beschützen und bestrafen wird.

Die Recherche fand auf Einladung von SOS-Kinderdörfer weltweit statt.

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