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Ray Nayler: Was würden die Kraken sagen?

Ray Nayler erzählt in seinem Science-Fiction-Debüt-Roman von einem Forschungsprojekt, moderner Sklaverei und dem Kampf um KI

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.
Die außergewöhnlichen Kraken sind aber auch keine besseren Lebewesen, weil sie enger mit der Natur zusammenleben.
Die außergewöhnlichen Kraken sind aber auch keine besseren Lebewesen, weil sie enger mit der Natur zusammenleben.

Was würde passieren, wenn wir plötzlich eines Tages im Meer auf eine intelligente, bisher unbekannte Spezies treffen würden? Das spielte schon Frank Schätzing vor 20 Jahren in seinem Bestseller-Roman »Der Schwarm« durch, wobei da gleich die ganze Menschheit in größte Gefahr geriet, weil sich die havarierende Natur im Anthropozän zur Wehr setzte. Weitaus unaufgeregter und trotz aller Fantastik letztlich auch realistischer, weil weniger bemüht spektakulär, thematisiert das der 47-jährige Ray Nayler in seinem prämierten Roman »Die Stimme der Kraken«.

In einer nahen Zukunft forscht auf der vietnamesischen Inselgruppe Con Dao die Wissenschaftlerin Ha Nguyen zu Oktopussen, von denen es auf dem Archipel jede Menge gibt. Die Inselgruppe wurde von einem Konzern namens Dianima gekauft, der die lokale Bevölkerung einfach umsiedelte, um das außergewöhnliche ökologische Meeres-Biotop zu erhalten. Im ehemaligen Hotel des tropischen Urlaubsparadieses wohnt nun Ha Nguyen zusammen mit der künstlichen Lebensform Evrim, einem einzigartigen Androiden, der aus politischen Gründen als KI quasi auf das abgelegene Archipel verbannt wurde. Für die Sicherheit auf der von der Öffentlichkeit abgesperrten Insel sorgt die Mongolin Altantsetseg, die über ein beachtliches Arsenal an Waffen und Überwachungssystemen verfügt.

»Die Stimme der Kraken« beginnt als Erzählung über ein ambitioniertes Forschungsprojekt und fächert dann in unterschiedlichen Handlungssträngen ein globales Narrativ zum Thema Ökologie auf. Zum einen ist da die meeresbiologische Forschung auf Con Dao, bei der Ha und Evrim verblüfft feststellen, dass sich auf dem Boden des Ozeans in einem jahrzehntealten Schiffswrack eine ganze Gemeinschaft intelligenter Kraken angesiedelt hat, die schließlich mit ihnen zu kommunizieren beginnen.

Die großen Kraken schreiben nicht nur Symbole ins Wasser wie die riesigen Oktopus-ähnlichen Aliens in dem Film »Arrival« (2016), sondern spielen auch mit Farben auf ihrer Haut, bearbeiten Gegenstände und tauchen plötzlich auch an Land auf. Je weiter Ha und Evrim die Kolonie erforschen, desto überraschter sind sie von dem, was da unten im Meer schlummert und in Legenden des Archipels schon seit Jahrhunderten Erwähnung findet. Außerdem gibt es die Geschichte Eikos, der ursprünglich für den Konzern Dianima arbeiten wollte und auf einem KI-gesteuerten riesigen Fisch-Trawler landet, auf dem er mit anderen entführten Menschen als Sklave im Fischfang arbeiten muss. KI-gesteuert betreibt der vollautomatische Trawler als schwimmende Fabrik maximalen Ressourcen-Raubbau. In Istanbul versucht derweil eine geheime Organisation einen Hacker zu rekrutieren, der in ein komplexes KI-System einbrechen soll.

Es geht um die Frage, wie andere Wesen denken, fühlen, kommunizieren und soziale Bindungen aufbauen und wie der Mensch mit ihnen interagieren kann.

Das Faszinierende an den unterschiedlichen Handlungssträngen ist die wirklich gekonnte, leichthändige und trotzdem ungemein komplexe Begriffsarbeit in diesem Roman, in der neben jeder Menge KI-Technologie auch gleich noch eine ganze globale Landkarte ökonomischer und politischer Interessensphären entworfen wird. So liegt Con Dao in der autonomen Handelszone Ho Chi Min, Tibet ist ein wichtiger Player in der weit vorangeschrittenen digitalen Entwicklung, immer wieder wird auf diverse regionale Kriege der jüngsten Vergangenheit in Asien und Europa verwiesen.

Ray Nayler hat selbst 20 Jahre lang als Angestellter des US-Außenministeriums, eines Konsulats und verschiedener Kultur- und Forschungseinrichtungen unter anderem in Russland, Turkmenistan, Vietnam, Afghanistan, Aserbaidschan und dem Kosovo gelebt. Seine Auslandsaufenthalte scheinen ihn beim Schreiben enorm inspiriert zu haben. Nachdem er sich in der Science-Fiction-Gemeinde schon jahrelang als Kurzgeschichtenautor einen Namen gemacht hatte, ist »Die Stimme der Kraken« sein Debütroman, ebenso dystopisch wie utopisch.

Letztlich geht es um das Verhältnis des Menschen zu anderen Arten. Das schließt Oktopoden ebenso ein wie künstliche Intelligenzen und geht dabei auch der Frage nach, wie andere Wesen denken, fühlen, kommunizieren und soziale Bindungen aufbauen und wie der Mensch mit ihnen interagieren kann? Zu einem Happy End kommt es dabei nicht, so viel sei verraten, denn die Schwierigkeit, sich zu verständigen, die Bedürfnisse anderer Arten nicht nur zu verstehen, sondern auch zu berücksichtigen, lässt sich in dieser nahen Zukunft, die ebenso profitorientiert ist wie unsere Gegenwart, kaum lösen.

Die außergewöhnlichen Kraken sind aber auch keine besseren Lebewesen, weil sie enger mit der Natur zusammenleben. Und die den Menschen nachempfundene KI ist nicht einfach nur eine Maschine, die bis zur letzten Konsequenz kontrollierbar ist, sondern entwickelt ein autonomes Eigenleben. Ray Naylers Roman deutet am Ende zumindest an, wie ein aufgeschlosseneres ökologisches Bewusstsein soziale Kontakte auch zwischen all diesen unterschiedlichen Arten und damit das Leben insgesamt auf unserem Planeten verändern könnte. Dabei verzichtet er aber auf den moralischen Zeigefinger, sondern packt das in eine mitreißende und bis zur letzten Seite spannende Science-Fiction-Geschichte.

Ray Nayler: Die Stimme der Kraken. A. d. Amerik. Engl. v. Benjamin Mildner, Tropen bei Klett-Cotta, 464 S., geb. 26 €.

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