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EU-Ohrfeige für Unionsparteien
Innenkommissarin setzt Forderung nach Zurückweisungen deutliche Grenzen
Wenn EU-Mitgliedstaaten an ihren Binnengrenzen Asylsuchende zurückweisen wollen, können sie dazu nicht ohne Weiteres auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder den Schutz der inneren Sicherheit verweisen. Dies erklärte die EU-Kommissarin Ylva Johansson am Montag in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage des Europaabgeordneten Erik Marquardt (Grüne).
Im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) wird eine solche Möglichkeit zwar benannt. Dieser Artikel 72 sei aber keine generelle Ermächtigung für Zurückweisungen, erklärt Johansson. Wollen sich Staaten dennoch darauf berufen, müssen sie dies ausführlich begründen. Die anschließende Entscheidung unterliegt dann der Prüfung des Europäischen Gerichtshofs.
Die Antwort aus Brüssel ist auch eine Ohrfeige für die deutschen Unionsparteien. Seit Monaten drängen CDU und CSU die amtierende Ampel-Koalition zu Verschärfungen in der Migrationspolitik. Eine zentrale Forderung von CDU-Chef Friedrich Merz und seinem Fraktionsvize Jens Spahn ist die generelle Zurückweisung von Schutzsuchenden an den Binnengrenzen und die Begründung mit dem Artikel 72 AEUV.
Vor dem Leipziger Treffen der Länderchefs hatte die CDU vergangene Woche den Druck erhöht. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer sprach sich sogar für eine Verfassungsänderung aus, um das Asylrecht an die Wünsche der Konservativen anzupassen. Beschlossen wurden diese Vorschläge in Leipzig aber wegen fehlender Einigkeit nicht.
»Das ist eine klare Absage an die Zurückweisungsfantasien in der deutschen Debatte.«
Erik Marquardt Europaabgeordneter
Die Antwort der Kommission sei »eine klare Absage an die Zurückweisungsfantasien in der deutschen Debatte«, sagt der Grüne Marquardt auf Nachfrage des »nd«. Ähnlich äußert sich die Linke-Bundestagsabgeordnete Clara Bünger und verweist darauf, dass der Europäische Gerichtshof bereits 2022 gegen Litauen entschieden habe, dass eine Berufung auf eine angebliche nationale Notlage nicht ausschließen darf, dass fliehende Menschen einen Asylantrag stellen können. »So sehr Friedrich Merz davon träumen mag: Pushbacks an deutschen Außengrenzen wird es damit also nicht geben. Es ist gut, dass die Kommissarin Johansson das klargestellt hat«, sagt Bünger dem »nd«.
Offenbar hat die Bundespolizei aber längst andere, womöglich europarechtswidrige Fakten geschaffen: Nachdem Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ab Mitte September die Ausweitung stationärer Kontrollen auf alle Landgrenzen angeordnet hat, finden dort immer öfter Zurückweisungen statt. Laut einem Bericht der »Bild am Sonntag« vom vergangenen Wochenende hat die Bundespolizei in den ersten neun Monaten dieses Jahres 53 410 unerlaubte Einreisen registriert. Mit 28 321 Personen wurden über die Hälfte der Betroffenen zurückgewiesen.
Die meisten Zurückweisungen gab es laut der Zeitung an den Grenzen zur Schweiz (9113 Personen), Polen (7862), Österreich (5468) und an der französischen Grenze (2350). Am häufigsten abgewiesen wurden Menschen aus der Ukraine (5935 Personen), Syrien (4708) und Afghanistan (2396). In 1482 Fällen wurde die Einreise untersagt, weil die Migrant*innen nach einer Abschiebung eine Einreisesperre erhalten haben.
Von einer unerlaubten Einreise spricht die Polizei, wenn eine Person mit ausländischer Staatsangehörigkeit ohne einen gültigen Aufenthaltstitel die Grenze überqueren will. Zurückweisungen sind unter anderem möglich, wenn jemand kein Asylbegehren äußert. Ein Bericht des »Spiegel« hatte im September die Frage aufgeworfen, ob die Betroffenen manipulativ befragt werden, um ein Asylgesuch zu verhindern.
Mit der Wiedereinführung der Grenzkontrollen zu allen Nachbarländern hat die Bundespolizei einen alten Fragebogen wieder ausgegraben, den Ausländer*innen, deren Identität ungeklärt ist, ausfüllen sollen. Darin wird auch der Grund der Einreise abgefragt, wobei vier Optionen zur Auswahl stehen: Besuch bei Bekannten oder Verwandten, Urlaub, Geschäftsreise und Arbeitsaufnahme. Ein Asylantrag kann dabei nicht ausgewählt werden. Migrant*innen, die irrtümlich eine der genannten Optionen ankreuzen – vielleicht, weil sie ihre Chancen auf Asyl durch Arbeitsbereitschaft verbessern wollen – könnten dann keinen Zugang mehr zum Asylverfahren haben.
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Auf Nachfrage des »nd« erklärt ein Sprecher des Bundesministeriums, dass der Fragebogen, der in mehr als 50 Sprachen vorrätig sein soll, für die Bundespolizei »nur ein Hilfsmittel« sei. Eine Entscheidung über die Person werde nicht allein aufgrund von Angaben in diesem Fragebogen getroffen. Auch in folgenden Gesprächen könne die Person an der Grenze ein Schutzersuchen stellen. Dann schlössen die normalen Regelungen des Dublin-Verfahrens an. Gemeint ist die Prüfung, ob die Person schon in einem Schengen-Staat ein Asylgesuch gestellt und die Person dorthin überstellt werden kann. Für diese Prozedur müssen die Antragsteller*innen aber nach geltender Rechtsprechung in eine Aufnahmeeinrichtung in Deutschland gebracht werden.
In der jüngsten Reform des europäischen Asylsystems haben die EU-Staaten auch den Schengener Grenzkodex geändert. Darin wird nun die »Überstellung von in Binnengrenzgebieten aufgegriffenen Personen« vereinfacht. Allerdings gilt auch dies nicht für Schutzsuchende, bekräftigt Innenkommissarin Johansson in der Antwort an den Grünen Marquardt.
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