Erinnerung an Mirjam Ohringer: Immer mit Ohren und Augen draußen

Eine Erinnerung an Mirjam Ohringer, die schon als Schülerin gegen die Nazis kämpfte

  • Tanja von Fransecky und Stephan Stracke
  • Lesedauer: 6 Min.
Mirjam Ohringer setzte sich bis ins hohe Alter unermüdlich gegen das Vergessen ein.
Mirjam Ohringer setzte sich bis ins hohe Alter unermüdlich gegen das Vergessen ein.

Marx und Moses, der Einsatz gegen soziales Unrecht und für die eigene jüdische Tradition, waren für Mirjam Ohringer die zentralen Werte, die sie ihr Leben lang begleitet haben. In diesem Jahr wäre die Shoah-Überlebende und Widerstandskämpferin, die bis kurz vor ihrem Tod 2016 politisch aktiv war und als Zeitzeugin auftrat, 100 Jahre alt geworden. Wir von der Wuppertaler Geschichtsinitiative »1933 Niemals vergessen!« hatten Ohringer ab 2010 mehrfach in Amsterdam besucht und uns von ihr ihre Lebensgeschichte erzählen lassen.

Geboren wurde Ohringer am 26. Oktober 1924 in Amsterdam. Ihre Eltern kamen aus Galizien. Sie hatten ihre Kindheit und Jugend in Armut verbracht, sogar bisweilen hungern müssen. Als während des Ersten Weltkriegs der Einberufungsbefehl von der österreichisch-ungarischen Armee kam, befand Herman Ohringer, dass das nicht der Krieg der einfachen, armen Leute und somit auch nicht sein Krieg war. Um dem Wehrdienst zu entkommen, zog er in das Deutsche Reich. Im Januar 1917 migrierte er weiter nach Amsterdam. In Amsterdam traf er Tauba Bleiberg wieder, die er schon aus Galizien kannte. Sie heirateten 1923.

Die Ohringers waren vom Sozialismus und später vom Kommunismus überzeugt. In Amsterdam organisierten sie sich in der jiddischsprachigen Arbeiterkulturvereinigung Anski, die dem sozialistischen Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund, kurz Bund, angegliedert war. In diesem Umfeld gründete sich 1931 eine ebenfalls jiddischsprachige Rote-Hilfe-Gruppe zur Unterstützung politischer Gefangener. Die Gruppe traf sich in der Wohnung der Ohringers.

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Im Januar 1933 trennten sich Ohringers Eltern. Mirjam Ohringer und ihre Mutter sahen sich nur noch einmal Ende August 1933, dann erst wieder nach der Befreiung 1945.

Ohringers Vater half deutschen Antifaschist*innen, manche davon Jüd*innen, die illegal in die Niederlande geflüchtet waren, mit Unterkünften und Lebensmitteln. Mirjam Ohringer schilderte die damalige Situation: »Viele deutsche Antifaschisten mussten damals fliehen. Die Parole war: Bleib so nahe wie möglich an Deutschland, wenn du fliehen musst. So kamen viele von ihnen nach Holland, sie waren illegal. (…) Damals war es am wichtigsten, dass man Geld zusammenbringt, um die Menschen am Leben zu halten und ihnen zu essen zu geben.«

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Geld für die deutschen Flüchtlinge sammelte Mirjam Ohringer bei zuverlässigen Gleichgesinnten. Innerhalb ihrer Jugendgruppe, die ebenfalls zu Anski gehörte, wurden Patenschaften für die illegalen Flüchtlinge aus Deutschland übernommen. Dazu gehörte es, für jeden Flüchtling pro Woche einen Gulden aufzutreiben. Zugleich gaben ihnen die deutschen Antifaschist*innen, die ja schon repressionserfahren waren, Hinweise für das spätere Überleben in der Illegalität.

Nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Mai 1940 veränderte sich die Situation. Mirjam Ohringer, damals noch Schülerin, begann ab Herbst 1940 die illegale kommunistische Zeitung »De Waarheid« mit zu produzieren und zu vertreiben. Zu viert trafen sie sich in der Wohnung der Ohringers, verfassten zu vorgegebenen Themen Artikel für »De Waarheid« und verteilten sie nach Drucklegung an vertrauenswürdige Menschen. Eine Abziehmaschine stand 1941 eine Zeit lang in der Wohnung von Herman und Mirjam Ohringer.

»Wenn die Zeitung dann fertig war, habe ich ein Exemplar bekommen, und damit habe ich gewuchert. Ich habe es irgendwie unter den Kleidern versteckt und bin bei einem vorbeigegangen, den ich kannte und von dem ich wusste, der kennt auch wieder Leute, die Interesse haben. Man musste sich bei dem Menschen ganz sicher sein, man musste genau wissen, zu wem man hingehen konnte. Ich sagte zu ihm also: ›Du kannst das jetzt lesen, und wenn ich von der Schule zurückkomme, komme ich das wieder abholen. Aber du musst mir etwas dafür geben, damit wir wieder Papier kaufen können.‹ Und das habe ich bei mehreren Leuten so gemacht, immer mit demselben Exemplar.«

Ohringer war auch als Kurierin aktiv, denn junge Mädchen galten als unverdächtig. Der Februarstreik 1941 war für sie eine zentrale Erfahrung von Solidarität. Infolge dessen Niederschlagung wurden etwa 400 jüdische Männer verhaftet und in das KZ Mauthausen verschleppt. Am 11. Juni 1941 wurde eine zweite große Razzia durchgeführt. Erneut kam es zu Verhaftungen und Verschleppungen von jungen Juden nach Mauthausen, darunter Mirjam Ohringers Freund und Liebe, Ernst Josef Prager. Keiner von ihnen überlebte die KZ-Haft in Mauthausen.

Als am 15. Juli 1942 die Deportationen begannen, wollte Mirjam Ohringers Vater sie in die Schweiz schleusen lassen, aber sie wollte Amsterdam nicht verlassen, auch nicht in die niederländische Provinz: »Ich wusste, auf dem Dorf kennt jeder jeden, da kann ich nicht aus dem Haus und ich kann auch nichts mehr im Widerstand tun.« Der Vater konnte bei einem älteren Ehepaar in Amsterdam untertauchen. Mirjam Ohringer blieb nun, zum großen Missfallen ihres Vaters, alleine in ihrer gemeinsamen Wohnung zurück. Da die Razzien stets während der Sperrstunde stattfanden, wenn alle Jüd*innen zu Hause sein mussten, schlief sie jedoch immer woanders.

Anfang November 1942 fand Herman Ohringer endlich ein sicheres Versteck für seine Tochter, allerdings auf dem Land in einem kleinen Dorf in der Provinz Nordholland bei einem kommunistischen Ehepaar, das eine Bäckerei betrieb. Vor der Dachkammer wurde für Miriam Ohringer ein Versteck unter den Dielenbrettern gebaut. Der Eingang zum Versteck wurde immer offen gehalten, sodass es für sie im Falle einer Razzia schnell zu erreichen sein würde. Tagsüber konnte sie das Haus nicht verlassen. Die Angst vor Entdeckung begleitete sie permanent. Sie sagte: »Man lebt mit Ohren und Augen draußen. Immer. Tag und Nacht.«

Währenddessen spitzte sich die Situation für die in Amsterdam untergetauchten jüdischen Menschen immer weiter zu. Im Juni 1943 wurde Herman Ohringer zusammen mit vier weiteren Untergetauchten von zwei Angehörigen der Nationaal-Socialistische Beweging auf »Judenjagd« festgenommen und in das Sammellager Hollandsche Schouwburg in Amsterdam eingeliefert, eine Zwischenstation vor dem Weitertransport ins Sammellager Westerbork. Von Westerbork aus fuhren die Deportationszüge nach Auschwitz und Sobibór.

Glücklicherweise traf Herman Ohringer in der Hollandsche Schouwburg einen alten Genossen, offenbar einer der dort eingesetzten jüdischen Ordner, mit Verbindung zum Widerstand, der seine Flucht organisierte. Mirjam Ohringer erzählt von seinem Fluchthelfer, der gesagt habe: »Lass alles stehen und liegen, komm mit eine Treppe hoch.« Über die Dächer floh er bis zur Straßenecke, das Treppenhaus hinunter in einen Hof, auf dem Autohändler und Werkstätten waren. Dort stand ein Krankenwagen, in dem er weggebracht wurde. Herman Ohringer gelang es, bis zur Befreiung unterzutauchen.

Mirjam Ohringer versteckte sich bis zum 12. Juni 1944, 19 Monate lang, bei dem kommunistischen Bäcker-Ehepaar. Dann ließ ihr Vater sie nach Amsterdam holen, denn er befürchtete, dass es wegen des alliierten Vorstoßes an der Atlantikküste in Küstennähe für sie gefährlich werden könnte. In Amsterdam erlebten Vater und Tochter die Befreiung.

Mirjam Ohringer engagierte sich zeitlebens in der politischen Linken. Sie setzte sich gegen den niederländischen Kolonialkrieg in Indonesien ein und gegen die Bedrohung durch atomare Waffensysteme. Der Friedensbewegung blieb sie zeitlebens verbunden. Ende der 70er Jahre wurde sie als Zeitzeugin aktiv, ebenso wie in Organisationen ehemaliger Widerstandskämpfer*innen und in antifaschistischen sowie antirassistischen Organisationen. Insbesondere war sie im niederländischen Mauthausen-Komitee tätig und organisierte jedes Jahr eine Delegationsreise zur Befreiungsfeier in Mauthausen. Sie starb am 29. Mai 2016 im Alter von 91 Jahren in Amsterdam.

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